Als Morbus Whipple (engl.: Whipple’s disease) wird eine sehr seltene systemische bakterielle Erkrankung bezeichnet. Erstbeschreiber ist G.H. Whipple 1907. Erreger ist das Bakterium Tropheryma whipplei. An der Infektion beteiligt sind praktisch obligat der Dünndarm und häufig zudem verschiedenste innere Organe. Die Symptomatik ist wegen der unterschiedlichen Befallsmuster bunt. Die Erkrankung wird oft erst spät entdeckt, weil die Blutkulturen, da sich die Bakterien intrazellulär in Makrophagen verstecken, meist negativ bleiben. (1)Lancet Infect Dis. 2022 Oct;22(10):e280-e291. doi: 10.1016/S1473-3099(22)00128-1
Der Name „Whipple“ kommt auch im Begriff „Whipple-Operation“ vor, einem tumorchirurgischen Eingriff beim Pankreaskarzinom.
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Inhaltsverzeichnis
Epidemiologie, Häufigkeit
Der Morbus Whipple tritt sporadisch auf. Im Wesentlichen waren es bisher Menschen kaukasischer Herkunft. Asiaten und Afrikaner sind praktisch nicht betroffen. Es wurden bisher etwa 1000 Fälle berichtet. Die jährliche Inzidenz liegt bei etwa 12 neuen Fällen. Überwiegend sind Männer im mittleren Lebensalter betroffen (m:f = 8:1). (2)Clin Microbiol Rev. 2017 Apr;30(2):529-555. doi: 10.1128/CMR.00033-16.
Als Reservoir der Bakterien scheinen immungeschwächte Kinder eine Rolle zu spielen. Im Iran wurde bei 77% der Betroffenen eine akute lymphatische Leukämie (ALL) gefunden; bei 10% fand sich bakterielle DNA im Stuhl. (3)Future Microbiol. 2021 Oct;16:1161-1166. DOI: 10.2217/fmb-2021-0091
Entstehung
Das den Morbus Whipple auslösende Bakterium Tropheryma whipplei gehört zur Untergruppe Actinomyces. Der menschliche Dünndarm ist das einzig bekannte Reservoir des Keims.
Warum nur sehr wenige Menschen krank werden, ist noch nicht völlig geklärt. Es wird angenommen, dass Carrier nicht immer asymptomatisch gewesen sein müssen, sondern in einer frühen Phase eine akute Gastroenteritis durchgemacht hatten. Auf jeden Fall scheint das Bakterium weit verbreitet zu sein; immerhin tragen 50-70% der Bevölkerung Antikörper, auch in Afrika, wo die Erkrankung praktisch nicht vorkommt. (4)Clin Microbiol Rev. 2017 Apr;30(2):529-555. doi: 10.1128/CMR.00033-16. (5)PLoS Negl Trop Dis. 2011 Dec; 5(12):e1403.
TNF-alpha-Hemmer können zu einer Exacerbation (Aufflammen) der Whipple-Krankheit führen, da sie die Makrophagen (Fresszellen), in denen sich das Bakterium aufhält, anregen, sich durch Apoptose selbst zu zerstören. (6)Front Immunol. 2021 May 20;12:667357. DOI: 10.3389/fimmu.2021.667357
Defekt der Schleimhautabwehr
Das Bakterium gehört offenbar zu den häufigen Auslösern einer Magendarminfektion, die meist selbstlimitierend verläuft. Nur in extrem seltenen Fällen kommt es zur Spätmanifestation eines Morbus Whipplei. Offenbar spielen dafür seltene Suszeptibilitätsfatoren eine entscheidende Rolle. Üblicherweise wird bei Whipple-Kranken keine Übertragung von Mensch zu Mensch beobachtet; in der Umgebung von Whipple-Patienten entstehen nicht vermehrt Neuinfektionen.
HLA-B27 findet sich bei Befallenen etwa 3 mal häufiger als bei Nichtbefallenen. Ansonsten sind keine Faktoren bekannt, die mit einem erhöhten Risiko für die Erkrankung einhergehen. Man nimmt an, dass ein Defekt in der Immunabwehr und speziell der Makrophagenfunktion und der regulatorischen T-Zellen vorliegt. (7)J Immunol. 2011 Oct 15;187(8):4061-7 Der Abwehrdefekt ist offenbar sehr diskret: Whipple-Patienten erleiden nicht häufiger als andere Menschen die andere Infektionserkrankungen. (8)Clin Microbiol Rev. 2017 Apr;30(2):529-555. doi: 10.1128/CMR.00033-16.
Prädisposition
In einer Serie von Whipple-Patienten wurde festgestellt, dass alle eine verminderte Produktion von “transforming growth factor β1” (TGF-β1) und eine erhöhte Produktion von Interleukin-4 (IL-4) aufwiesen. Dieser Anomalie liegt wahrscheinlich eine genetische Prädisposition zugrunde. IL4 reguliert die Produktion von IL-12 und von gamma-Interferon (IFN-γ) herunter, was eine verminderte Schleimhautabwehr zur Folge haben kann. (9)Eur J Clin Microbiol Infect Dis. 2012 Nov; 31(11):3145-50.
Befall des Duodenums
Die Bakterien werden in der Schleimhaut von Makrophagen aufgenommen; in ihnen überleben sie lange Zeit. In der PAS-Färbung von histologischen Schnitten der Schleimhaut sind sie als PAS-positive SPC-Zellen (siccle particles containing cells) erkennbar. Lokale Lymphknoten, in denen diese Zellen in hoher Zahl zu finden sind, schwellen an und führen zu einer Abflussbehinderung der Lymphe, so dass sie sich in der Schleimhaut staut. Endoskopisch ist die Lymphstauung an einer Schleimhautschwellung mit weißlichen Tüpfelungen erkennbar (“Schneegestöber”). Die Erkrankung wurde daher ursprünglich als “intestinale Lipodystrophie” bezeichnet.
Befall innerer Organe
Je nach Befall findet man SPC-Zellen in vielen inneren Organen und Geweben, so auch im Herzen, in den Niere und Lungen, im Gehirn, in endokrinen Drüsen und in Knochen und Gelenken. Die Symptomatik kann entsprechend vielfältig sein.
Klinik und Symptomatik
Durch die Dünndarminfektion kommt es im Verlauf der Erkrankung zu einer mangelhaften Verdauung und Resorption von Nahrungsbestandteilen mit der Folge von Mangelzuständen im Körper und von Durchfällen. Die Beteiligung innerer Organe kann zu einer Vielzahl weiterer Symptome führen. Die klassische Symptomatik besteht aus Gewichtsverlust, Fieber, Bauchschmerzen, Durchfall, Polyarthralgie und Lymphadenopathie. (10)Clin Microbiol Rev. 2017 Apr;30(2):529-555. doi: 10.1128/CMR.00033-16. (11)Lancet Infect Dis. 2016 Mar;16(3):e13-22. doi: 10.1016/S1473-3099(15)00537-X.
Die Diagnose des Morbus Whippel wird meist im späten mittleren Alter (um 50 J) gestellt. Folgende Symptome und Beschwerden können auftreten.
Intestinale Symptome
Extraintestinale Symptome
- Gelenksymptome: Sie gehen in ca. 75% der Fälle viele (durchschnittlich 6) Jahre einer intestinalen Symptomatik voraus. (12)Joint Bone Spine 2002; 69: 133-40 Chronische Gelenkdeformitäten folgen selten.
- Leichtes Fieber.
- Gewichtsverlust wegen Resorptionsstörungen im Dünndarm.
- Neurologische Beteiligung in ca. 10% mit breitem Spektrum an Symptomen: u.a. Demenz, Kopfschmerz, Parkinsonismus, Apathie, Tinnitus, Ophthalmoplegie, Dysarthrie.
- Anämie (mikrozytär hypochrom) bei Malabsorption von Vitaminen (u.a. B12) und bei Eisenmangel.
- Mangelsymptome (u.a. Vitamine, Spurenelemente wie Magnesium und Eisen, Kalzium).
- Eiweismangel durch Eiweißverlust über den Darm und mangelhafte Resorption von Aminosäuren mit der Folge von Ödemen (wie bei der einheimischen Sprue oder beim Kwashiorkor).
- chronischer Husten bei Lungen- und Bronchialbefall (wie bei Whipple´s erstem Patienten).
- Symptome der Herzinsuffizienz und Angina pectoris bei Herzbefall (Endokard, Myokard, Perikard, Klappen, Koronararterien). Die Whipple-Krankheit ist eine der Ursachen für eine Blutkultur-negative Endokarditis (mit Herzklappenerkrankung). (13)Front Immunol. 2022 Jun 29;13:900589. DOI: 10.3389/fimmu.2022.900589
- Augenbefall mit Sehstörungen.
Immer wieder werden auch monosymptomatische Verläufe berichtet, so z. B. eine isolierte Aortenklappenendokarditis mit T.-whipplei-Befall (14)Int J Infect Dis. 2011 Nov;15(11):e804-6 oder ein isolierter Befall des Gehirns mit progressivem kognitiven Abbau und Entwicklung einer Demenz. (15)J Neurol Sci. 2011 Sep 15;308(1-2):1-8
Differentialdiagnosen
Die Beschwerden und Symptome sind vielfältig und unspezifisch; sie können je nach im Vordergrund stehendem Organsystem zu unterschiedlichsten Differentialdiagnosen führen. Ähnlich vielfältig in ihrer Symptomatik ist die Sprue (Coeliakie) mit ihrem Malassimilationssyndrom. Der Morbus Whipple kann auch Pilzerkrankungen, bakteriellen Infektionen, dem Morbus Boeck oder der Tuberkulose ähneln.
Diagnostik
Symptomatik
Die Symptome wie Durchfälle, Blähungen, Bauchschmerzen (s.o.) können bereits auf eine Dünndarmkrankheit hindeuten und eine Gastroskopie veranlassen. Auch eine ungeklärte Arthropathie sollte an einen Morbus Whipple denken lassen. In besonderen Fällen kann die Behandlung einer seronegativen rheumatoiden Arthritis mit einem TNF-alpha-Hemmer zu einer Demaskierung der Whipple’schen Krankheit führen. (16)BMJ Case Rep. 2022 Jul 21;15(7):e250693. doi: 10.1136/bcr-2022-250693
Endoskopie
Die Gastroskopie zeigt bei Aufmerksamkeit und Erfahrung des Untersuchers meist ein typisches “Schneegestöber” der Duodenalschleimhaut (verursacht durch multiple gestaute Lymphgefäße in der Mukosa). Die Histologie einer Gewebeprobe ergibt die pathognomonischen SPC-Zellen.
Bakteriennachweis
Eine bakterielle Anzucht der Bakterien ist nicht einfach. Die PAS-Färbung von Schleimhautproben des Duodenums ist nach wie vor der wichtigste Nachweis eines Befalls.
Heute kann das auslösende Bakterium im mikroskopischen Schnitt durch PCR nachgewiesen werden. (17)Clin Microbiol Rev 2001; 14: 561-83 Der Nachweis im Stuhl hat eine Spezifität und Sensitivität von annähernd 100% und kann endoskopische Kontrolluntersuchungen erübrigen. (18)J Clin Microbiol 2002; 40: 2466-71 Der PCR-Nachweis in Gewebsproben ermöglicht die Erkennung auch des Befalls anderer Organe.
Röntgenuntersuchung
Röntgenologisch findet man nach einem Kontrastbreischluck palisadenartige Faltenschwellungen (plicae circulares) im Dünndarm. Sie sind ebenfalls Anlass für eine Endoskopie mit Histologie und PCR im Gewebe.
Therapie
Verschiedene Antibiotika sind erfolgversprechend; dazu gehören Penicillin, Cephalosporine, Erythromycin, Tetrazycline, Cotrimoxazol, Chloramphenicol. Oft kommt es trotz prolongierter Einnahme noch nach Monaten oder Jahren zu Relapsen, vielfach dabei zu neurologischer Symptomatik. Offenbar können die Bakterien im ZNS überdauern.
Empfohlen wird laut einer kleinen Studie folgendes Schema: Ceftriaxon (1x 2g/Tag) oder Meropenem (3x 1g/Tag) für 14 Tage, gefolgt von Cotimoxazol-Trimetoprim für 12 Monate. (Dosierungen müssen überprüft werden!) (19)Gastroenterology. 2010 Feb; 138(2):478-86; quiz 11-2.
Die Therapie umfasst weiterhin symptomatische Maßnahmen des Ausgleichs von Elektrolyten, Vitaminen und Spurenelementen (u.a. Kalzium und Vitamin D zur Osteoporoseprophylaxe).
Die Therapie führt oft bereits nach wenigen Tagen zu einer Verbesserung von Beschwerden, so nicht nur der Darmsymptome sondern auch der Gelenkbeschwerden. Eine zerebraler Befall dagegen ist oft therapieresistent.
Die Überwachung der Therapie beinhaltet regelmäßige endoskopische Kontrollen. Eine restliche Lymphgefäßerweiterung im endoskopsichen Bild und der Nachweis weniger PAS-positiver Makrophagen alleine beweist noch nicht, dass die Erkrankung noch aktiv ist; diese Befunde können offenbar trotz Therapieansprechens lange persistieren. Heute können Bakterien molekularbiologisch nachgewiesen werden, womit eine bessere Überwachung des Therapieerfolgs möglich ist.
Vorbeugung: Es werden Untersuchungen zu einer Impfung durchgeführt, die erfolgversprechend zu sein scheinen. (20)Vaccines (Basel). 2022 Apr 28;10(5):691. DOI: 10.3390/vaccines10050691.
Verweise
Literatur