Das Wichtigste verständlich |
Das Gilbert-Meulengracht-Syndrom (vielfach als Morbus Meulengracht bezeichnet) ist keine Krankheit (kein Morbus) sondern eine in aller Regel harmlose Stoffwechselstörung. Sie ist häufig und betrifft 2 bis 10 % der westlichen Bevölkerung.
Das Meulengracht-Syndrom wird durch eine geringe Gelbfärbung der Augen (Sklerenikterus) auffällig. Daher wird vielfach zunächst an eine Leberkrankheit gedacht. Die Laborwerte der Leber sind jedoch völlig normal. Auch liegt ein vermehrter Blutzerfall (Hämolyse), der ebenfalls zu einer leichten Gelbsucht führen kann, im Allgemeinen nicht vor. Da die Betroffenen sich wohl fühlen, ist es meist leicht, ein bei einem leichtem Sklerenikterus ein Meulengracht-Syndrom als die wahrscheinlichste Diagnose anzunehmen, besonders wenn er bei Jugendlichen bemerkt wird. Bei normalen Leberwerten und Wohlbefinden braucht in aller Regel keine weitere Diagnostik durchgeführt zu werden. Auch eine Behandlung ist nicht erforderlich. Da die Phasen einer leichten Gelbverfärbung der Augen meist mit Phasen vermehrten Stresses und verminderter Nahrungsaufnahme zusammenfallen (z. B. während einer Prüfungsvorbereitung), bedeutet es für einige Betroffenen allenfalls, mehr auf ein geregeltes Leben zu achten. Zugrunde liegt dem Meulengracht-Syndrom eine genetische Anomalie: Ein homozygoter Polymorphismus A(TA)7TAA ist die häufigste Ursache. Wenn erforderlich lässt sich die Stoffwechselanomalie durch Nachweis genetischer Varianten des UGT1A1-Gens (überwiegend UGT1A1*28) diagnostizieren. 1 |
Ursache und Entstehung
Das Gilbert-Meulengracht-Syndrom (engl.: Gilbert syndrome) ist eine hereditäre (autosomal rezessive) Transport- und -Stoffwechselstörung von Bilirubin in der Leber ohne eine zugrunde liegende Leberkrankheit und ohne eigenen Krankheitswert. Synonyme sind Icterus intermittens juvenilis, familiärer nicht hämolytischer Ikterus, funktionelle Hyperbilirubinämie, Morbus Meulengracht. 2
Die Erhöhung des indirekten Bilirubins hängt mit einer Störung der Löslichmachung des Bilirubins (durch eine Konjugation Glukuronsäure) und zudem mit einer Aufnahmestörung in die Leberzellen zusammen 3.
Biochemie: Das Syndrom beruht hauptsächlich auf einer Konjugationsstörung des gelben Blutfarbstoffs (Bilirubin) in die Leberzellen (Hepatozyten). Bei der Analyse findet man einen A(TA)7TAA Polymorphismus im Promotor des Gens für UGT1A1 (Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferase 1A1) auf Chromosom 2. 4 5 Eine gelegentlich beschriebene leicht vermehrte Hämolyse hängt wahrscheinlich mit einer vermehrten Bildung von COHbc (CO an Carboxyhämoglobin gebunden) zusammen. 6
Der Haplotype UGT1A1*28 prädisponiert zu Hyperbilirubinämie und ist auch ein Prädiktor für eine hyperbilirubinämische Reaktion bei der Therapie mit bestimmten Medikamenten, so z. B. bei antiviraler Therapie mit Proteaseinhibitoren (bei einer HIV-Therapie verwendet) 3
Die Variante c.880_893delinsA (p.Tyr294MetfsTer69) ist möglicherweise auch mit einem partiellen Enzymmangel assoziiert, der zum Gilbert-Syndroms führt. Da diese genetische Variante mit dem Crigler-Najjar-Syndrom Typ I assoziiert ist, besteht zwischen beiden genetischen Anomalien eine gewissen Verwandtschaft. 7 8
Klinische Bedeutung
Häufig wird ein leichter Sklerenikterus erkennbar. Er tritt oft in Situationen mit vermehrtem Stress und verminderter Nahrungsaufnahme auf oder unter einer sonstigen abnormen Bedingung mit Nahrungskarenz oder Appetitlosigkeit. Die Stoffwechselanamalie wird nicht vor der Pubertät manifest und betrifft etwa 5 % der Bevölkerung.
Gestörter Metabolismus von einigen Medikamenten: Eine klinische Bedeutung der ansonsten harmlosen Stoffwechselanomalie besteht gelegentlich in einem gestörten Metabolismus von einigen Medikamenten. 9; Zudem kann sie bei einer gleichzeitig bestehenden Leberkrankheit möglicherweise zu einem prolongierten Ikterus führen. 10
Medikamente als Auslöser eines Leberschadens: Die UDP-Glucuronyltransferase 1A1*28 ist mit einem erhöhten Risiko für die Toxizität einzelner Medikamente assoziiert:
- HIV-Medikamente: Proteaseinhibitoren wie Atazanavir 11 und Indinavir 12 führen gehäuft zu einer Hyperbilirubinämie,
- Irinotecan-Toxizität 13,
- Toxizität von Paracetamol: 14,
- Anti-HCV-Therapie: relativ häufiger Ikterus 15,
- Mebendazol (Mittel gegen Wurmkrankheiten): Es wurde als Auslöser einer toxischen Leberschädigung bei Gilbert-Meulengracht-Syndrom angesehen (wegen einem Mangel an Glucuronosyltransferase). 16,
- Isotretinoin (Mittel zur Behandlung von Akne): Es hat bei Patienten mit einem Meulengracht-Syndrom einen Leberschaden ausgelöst. 17
Die prolongierte neonatale Hyperbilirubinämie von Brustmilch-gefütterten Kindern ist assoziiert mit dem Gen-Polymorphismus des Gilbert-Syndroms. 18
Hämolytische Erkrankungen scheinen bei gleichzeitig bestehendem Gilbert-Meulengracht-Syndrom zu einem verlängerten und verstärkten ikterischem Verlauf zu neigen. Das gilt u. a. für den Favismus (G6PDH-Mangel) 19, die ß-Thalassämie 20 und die Sichelzell-Anämie 21.
Bei Kindern mit Gallensteinen ist die Häufigkeit des veränderten UGT1A1-Gens erhöht, sodass das Gilbert-Meulengracht-Syndrom als prädisponierender Faktor für die Gallensteinbildung bei Kindern angesehen wird. 22 Bei der zystischen Fibrose erhöht das Gilbert-UGT1A-Allel die Wahrscheinlichkeit für Gallensteine. 23
Differenzialdiagnosen
Ein leichter Sklerenikterus kann Zeichen einer Leberkrankheit (z. B. einer viralen Hepatitis, Leberzirrhose, Fettleberhepatitis) oder einer Hämolyse sein. Sie sollten durch Laboruntersuchungen und durch die Sonographie abgeklärt werden.
Diagnostik
Anamnese
Die Diagnose liegt nahe, wenn bei einem sonst Gesunden ein leichter Sklerenikterus, aber keine wesentliche Einschränkung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit vorliegt. Meist handelt es sich um eher jugendliche Menschen, die wegen einer interkurrenten harmlosen Erkrankung (z. B. eine Gastroenteritis) oder sonstigen Bedingung (z. B. Stress) zu wenig gegessen haben. Üblicherweise finden sich kein Hinweis auf eine sonstige Lebererkrankung in der Vorgeschichte und keine erinnerliche Infektionsmöglichkeit für eine Hepatitis.
Labordiagnostik
- Leichte Hyperbilirubinämie (überwiegend indirektes Bilirubin) bis auf das 3-fache, maximal auf das 5-fache der oberen Normgrenze,
- Transaminasen und Cholestaseenzymen im Normbereich,
- in der Regel unauffällige Hämolyseparameter, eine diskrete Hämolyse kann aber vorkommen (Retikulozyten, Haptoglobin, LDH).
Die Bestimmung des UDT1A1-Promoter-Polymorphismus ist der sicherste Nachweis.
Selten ist das Gilbert-Meulengracht-Syndrom mit anderen hereditären Ikterusformen vergesellschaftet, so z. B. mit dem Dubin-Johnson-Syndrom. Solche Koinzidenzen können nur molekulargenetisch festgestellt werden. 24
Eine wichtige Koinzidenz mit dem Gilbert-Meulengracht-Syndrom, die ebenfalls nur molekulargenetisch einwandfrei diagnostizierbar ist, ist die mit einem Mangel an Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase: sie stellt beim Neugeborenen ein erhöhtes Risiko für einen Kernikterus dar. 25
Sonographie
In der Sonographie findet man eine unauffällige Leber ohne Zeichen einer besonderen Verfettung oder eines zirrhotischen Umbaus.
→ Zur Sonographie der Leber
Provokationstests
Sie sind selten erforderlich. Durch 3-tägige Kalorienreduktion auf 600 kcal/d oder 50 mg Nikotinsäure i. v. erfolgt bei Vorliegen der Stoffwechselanomalie ein Anstieg des Bilirubins, besonders des indirekten Bilirubins.
Weiterführende Diagnostik
Invasive Diagnostik sollte vermieden werden. Es besteht keine Indikation für eine ERCP oder Leberpunktion.
Sicherung durch Genetik
Der Nachweis eines UDT1A1-Promoter-Polymorphismus gilt als beweisend. Allerdings ist eine genetische Analyse meistens nicht erforderlich.
Therapie
Eine medikamentöse Therapie ist nicht erforderlich. Eine vernünftige Lebensführung mit genügender Kalorienzufuhr ist empfehlenswert. Vorsicht bei der aus anderen Gründen zu erwägenden Therapie mit Medikamenten, die mit der UDP-Glucuronyltransferase interferieren können (u. a. Paracetamol, Irinotecan) (s. o.).
Zinksulfat bindet unkonjugiertes Bilirubin im Darm und reduziert damit eine Reabsorption (Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs) und bewirkt eine Senkung des Bilirubinspiegels im Blut. 26 Diese Maßnahme hat für eine Meulengracht-Behandlung keine Bedeutung. Auf den Bilirubinspiegel bei Neugeborenen hat dies keine Wirkung 27.
Gilbert-Syndrom und Lebertransplantation
Die Leber beim Meulengracht-Syndrom sind funktionell gesund und können ohne erhöhtes Risiko für den Empfänger und für den Spender (Leberteilspende) transplantiert werden. Es kommt jedoch häufig zu erhöhten postoperativen Bilirubinwerten. 28
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Verweise
Referenzen
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