Digitalis

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Das Wichtigste

Kurzgefasst

Digitalis (Digitalisglykoside, Herzglykoside) sind Extrakte des Fingerhuts. Sie wirken nicht nur am Herzen, sondern auch gegen Tumorwachstum. Es sind Medikamente, die sich aus Extrakten des Fingerhuts (z. B. Digitalis purpurea aus der Gattung Digitalis, giftige Wegerichgewächse) herleiten. Zu ihnen gehören auch Glykoside, die nicht dem Fingerhut entstammen (wie das Strophantin, s.u.). Ein nicht-pflanzliches kardiotoxisches Glykosid ist Bufalin aus einer chinesischen Kröte.

Wirkungen: Alle Herzglykoside verlangsamen die Herzfrequenz und können bei Überdosierung zu Bradykardie (kritisch langsamer Herzschlag) und bradykarden Synkopen führen. Neue Ergebnisse legen nahe, dass Digitalispräparate einen Stellenwert in der Krebstherapie erhalten können.

Indikationen: Diese Medikamentengruppe dient zur Behandlung des Herzens bei Herzschwäche (Herzinsuffizienz) und bei Herzrhythmusstörungen, besonders bei Vorhofflimmern mit zu raschem Herzschlag (Tachyarrhythmie).

Verträglichkeit: Digitalispräparate werden im therapeutischen Bereich gut vertragen; die therapeutische Breite ist jedoch recht schmal: es kann leicht zu einer Überdosierung mit erheblichen Nebenwirkungen, wie Übelkeit, langsamen Herzschlag (Bradykardie) und Farbensehen, kommen. Bei einer Funktionsstörung der Leber (Leberinsuffizienz) und der Nieren (Niereninsuffizienz) können je nach Präparat rasch Komplikationen eintreten.

Effekt auf Tumore: Digitalisglykoside üben einen hemmenden Effekt auf maligne (bösartige) Tumore aus. Sie sind daher in den letzten Jahren wieder für die Forschung interessant geworden.

Wirkungen der Digitalisglykoside am Herzen

  • negativ chronotrop: Herzfrequenz verlangsamend,
  • negativ dromotrop: die Erregungsleitung im Herzen verlangsamend,
  • positiv inotrop: kraftsteigernd.

Herzglykoside als Immunmodulatoren

In neuerer Zeit werden Digitalisglykoside hauptsächlich wegen ihrer Wirkung als Krebsmittel untersucht. Es sind Immunmodulatoren und antiproliferativ wirkende Krebsmittel (s. u.). Ihre Wirkung erzielen sie durch Unterdrückung von Immunzellen (der T-Helferzellen). (1)Biomolecules. 2021 Apr 29;11(5):659. DOI: 10.3390/biom11050659. PMID: 33947098; PMCID: PMC8146282. (2)Biomolecules. 2021 Aug 25;11(9):1275. DOI: 10.3390/biom11091275. PMID: 34572488; PMCID: PMC8465509.

Verschiedene Digitalisglykoside

Digitalisglykoside bestehen alle aus einem steroidalen nicht-Zucker-Anteil (Aglycon) und einem Zuckeranteil. Je nach Zusammensetzung ergeben sich unterschiedliche Eigenschaften, die differenziell therapeutisch genutzt werden können.

Beispiele

  • Digoxin: orale (und im Notfall auch intravenöse) Anwendung, mittellange Wirkung, Ausscheidung vorrangig über die Nieren, akkumuliert daher leicht bei Niereninsuffizienz. Bei Leberkrankheiten wird es besser vertragen als Digitoxin und ist weitgehend unabhängig von einer Cholestase. Wenn die Behandlung mit der Erhaltungsdosis begonnen wird, wird der effektive Wirkspiegel in etwa 1 Woche erreicht.
  • Digitoxin: orale (und im Notfall intravenöse) Anwendung, lang anhaltende Wirkung, Ausscheidung vorwiegend über die Leber mit der Galle in den Darm. Es wird dort erneut resorbiert und macht (wie die Gallensäuren) einen enterohepatischen Kreislauf durch. Daher liegt die biologische Halbwertszeit etwa bei 1 Woche. Es kumuliert im Körper bei einem Rückstau der Galle (Cholestase) und kann zu toxischen Nebenwirkungen führen. Dagegen kann es bei Niereninsuffizienz eher verwendet werden [2]. Wenn die Behandlung mit der Erhaltungsdosis begonnen wird, wird der effektive Wirkspiegel in etwa 1 Monat erreicht.

Strophantin ein Herzglykosid, aber kein Digitalisglykosid

Zu den Herzglykosiden, die jedoch nicht im Fingerhut vorkommen, gehört das sehr kurz wirksame Strophantin (eng. Ouabain). Es wird intravenös angewendet. Bis in die 90er Jahre hat es eine Rolle bei der Behandlung der Herzinsuffizienz bei tachykarden Rhythmusstörungen gespielt; heute dagegen hat es therapeutisch keine vorrangige Bedeutung mehr.

Nebenwirkungen

Das therapeutische Fenster der Digitalisglykoside ist relativ eng. Bei einer Überdosierung kommt es zu einer Reihe typischer Nebenwirkungen. Zu ihnen gehören Kreislaufstörungen mit Schwindel, Neigung zu Synkopen, sowie Übelkeit, Erbrechen und „Gelbsehen“ (gelber Rand um Konturen). Es kommt zur Bradykardie, besonders in Ruhe, und auch zu Rhythmusstörungen mit Extrasystolie (ggf. durch ein Speicher-EKG nachweisbar).

Eine Digitalis-Intoxikation sollte rasch diagnostiziert und behandelt werden. Dazu sollte ggf. der Darmkanal mit Aktivkohle gespült werden. Auch kommt bei einer Digitoxin-Überdosierung zusätzlich als Maßnahme Medikation von Cholestyramin über einige Tage eine in Betracht, welches das Glykosid im Darm bindet und die erneute Resorption verhindert.

Indikationen

Digitalisglykoside werden noch heute verordnet bei einer Herzinsuffizienz, die durch eine tachykarde Rhythmusstörung wesentlich mitbedingt ist. Oft gehört es zu den ersten Medikamenten, die bei einer akuten Insuffizienz bei Tachykardie gewählt werden, obgleich inzwischen andere Medikamente in den Vordergrund treten (wie Beta-Blocker und Adenosin).

Digitalis in der Krebstherapie

Digitalis kann die Zellproliferation hemmen. Untersuchungen zeigen eine positive Wirkung in der Krebstherapie, beispielsweise beim Prostatakarzinom. (3) J Urol. 2001 Nov;166(5):1937-42 Vermittelt wird sie über das Schlüsselenzym Na/K-ATPase: Es werden Signalwege beeinflusst, die den programmierten Zelltod (Apoptose) fördern. (4)Med Hypotheses. 1999 Dec;53(6):543-8 (5)Med Hypotheses. 1999 Dec;53(6):543-8 (6)Biochem Pharmacol. 2020 Dec;182:114226. DOI: 10.1016/j.bcp.2020.114226. Epub 2020 Sep 22. PMID: … Continue reading

Retrospektive klinische Studien zeigten, dass Krebspatienten (beispielsweise mit Brustkrebs, Darmkrebs oder Leberkrebs) unter Chemotherapie, die gleichzeitig Digoxin bekamen, ein besseres Gesamtüberleben aufwiesen. (7)Med Hypotheses. 1999 Dec;53(6):543-8

Chemische Modifikationen sollen den Antitumoreffekt der Herzglykoside erhöhen. (8)Proc Natl Acad Sci U S A. 2005 Aug 30;102(35):12305-10 (9)Bioorg Med Chem. 2011 Apr 1;19(7):2407-17 Klinische Studien stehen aus. (10)Nat Rev Drug Discov. 2008 Nov;7(11):926-35 (11)Biomolecules. 2021 Aug 25;11(9):1275. DOI: 10.3390/biom11091275. PMID: 34572488; PMCID: PMC8465509.

Bufalin

Auch das Digitalis-ähnliche, aber nicht-pflanzliche Steroid Bufalin (aus der chinesischen Kröte), das ebenso über die Na/K-ATPase wirkt und kardiotoxisch ist, weist eine Antikrebswirkung auf. Es es reduziert die Bildung von Metastasen in einem Tiermodell von menschlichem Leberkrebs (HCC). (12)J Transl Med. 2014 Feb 28;12:57. doi: 10.1186/1479-5876-12-57 Auch beim Ovarialkarzinom (13)Chin Med J (Engl). 2021 Dec 22;135(4):456-461. doi: 10.1097/CM9.0000000000001879, beim Prostatakarzinom (14)Exp Ther Med. 2021 Sep;22(3):1015. doi: 10.3892/etm.2021.10447, beim nicht-kleinzelligen Lungenkrebs (15)Br J Cancer. 2021 Feb;124(3):645-657. doi: 10.1038/s41416-020-01135-6, beim Magenkrebs (16)FASEB J. 2021 May;35(5):e21601. doi: 10.1096/fj.202002780R, beim Darmkrebs (17)RSC Adv. 2018 Nov 19;8(68):38910-38918. doi: 10.1039/c8ra06566g, beim Brustkrebs (18)Oncol Lett. 2020 Nov;20(5):171. doi: 10.3892/ol.2020.12028. und beim Gliom des Gehirns (19)Onco Targets Ther. 2020 May 27;13:4767-4778. doi: 10.2147/OTT.S242567 wurde ein hemmender Einfluss festgestellt. Zusammen mit Sorafenib wirkt es synergistisch, wie am HCC gezeigt wurde. (20)Onco Targets Ther. 2022 Mar 22;15:291-298. DOI: 10.2147/OTT.S333233

Verweise

Anhang: Wirkungsweise

Herzglykoside sind ATPase-Hemmer: Alle medikamentös wirksamen Digitalisglykoside binden an eine Na+/K+-ATPase (eine 3 Na+/ 2 K+ – ATPase) (21)Am J Physiol Regul Integr Comp Physiol. 2006 Mar;290(3):R524-8. Dies ist eine Natriumpumpe zum Austransport von Natrium aus der Zelle im Austausch gegen Kalium, das in die Zelle fließt. Sie baut einen Konzentrationsunterschied der Ionen an der Zellmembran auf, der die Ursache eines Membranpotentials ist. Das bei einem Aktionspotential einströmende Natrium hemmt den Kalziumausstrom (über den 3Na+/Ca2+-Exchanger), was zu weiteren Elektrolytverschiebungen führt.

ATPase-Hemmer, wie die Herzglykoside, beeinflussen daher das Membranpotential der Herzmuskelzellen; sie führen auch einen Kalzium-Overload herbei. Beides trägt zur Toxizität der Herzglykoside bei.

Normalerweise entlädt sich die Spannung an der Membran der Muskelzelle bei jedem Herzschlag durch Einstrom von Natrium und Ausstrom von Kalium und es kommt zu einer schlagartigen Abnahme der Bereitschaft des Herzens zur Kontraktion. Das Herz gerät in eine Refraktärphase. Die Na+/K+-ATPase regeneriert jedoch sofort das Membranpotential und macht die Herzmuskelzelle sehr rasch bereit für eine neue Erregung.

Digitalisglykoside behindern diese regenerative Aktivität der ATPase, so dass der Wiederaufbau des Membranpotentials verzögert abläuft. So erklärt sich die Verlangsamung der Herzfrequenz (Bradykardie). Dies kann eine therapeutisch gewünschte Wirkung sein, um ein zu schnell und unökonomisch schlagendes Herz in eine ökonomischere Schlagfrequenz zu bringen. Dies kann aber auch zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, indem bei einer Überdosierung eine zu starke Bradykardie mit Neigung zur Bewusstlosigkeit (Synkope) verursacht wird.

Die positive Wirkung, die von Digitalis-Präparaten erwartet wird, bezieht sich auf die Verlängerung der Repolarisation, d.h. auf die Verlängerung der Zeit, die benötigt wird, bis der Herzmuskel für eine neue Kontraktion bereit ist. Diese Zeit dient der Füllung des Herzens mit Blut. Bei einer Verlängerung dieses Zeitraums steigt also das Schlagvolumen, was bei einer Tachykardie vorteilhaft sein kann. In diesem Zeitabschnitt wird zudem die Herzmuskulatur über die Herzkranzgefäße mit Blut versorgt (während der Systole sind die kleinen Blutgefäße alle abgedrückt, und es fließt kaum Blut). Wenn diese Spanne durch Medikamente verlängert wird, hat das Herz mehr Zeit, Kraft (Sauerstoff und Glukose) zu tanken.

Literatur[+]