Fibromyalgie bedeutet Schmerzen an Binde- und Stützgewebe und Muskulatur. Bei Ausschluss anderer bekannter Krankheiten ist das Syndrom als eigenes Krankheitsbild definiert worden. Die diagnostischen Kriterien sind jedoch immer noch in Diskussion. Die Fibromyalgie stellt das häufigste chronische Schmerzsyndrom dar. Trotz intensiver Forschung sind ihre Ätiologie und Pathogenese weitgehend ungeklärt; allerdings sind in letzter Zeit erhebliche Fortschritte erzielt worden, die neue Therapieansätze begründen. 1 2 3
→ Auf facebook informieren wir Sie über Neues und Interessantes.
→ Verwalten Sie Ihre Laborwerte mit der Labor-App Blutwerte PRO – mit Lexikonfunktion.
Das Wichtigste verständlich
Kurzgefasst |
Die Fibromyalgie ist eine chronische Schmerzerkrankung. Charakteristisch sind schmerzhafte Druckpunkte an Muskel- und Sehnenansätzen.
Zur Diagnostik ist der Ausschluss anderer bekannter Krankheiten erforderlich. Als Ursache besteht eine bisher nicht erklärliche Überempfindlichkeit in bestimmten Hirnbezirken. Es wird dort eine diskrete Entzündungsreaktion festgestellt. Es besteht eine Verwandtschaft mit anderen Erkrankungen mit Überempfindlichkeitsreaktionen, wie dem Reizdarmsyndroms oder der Reizblase. Häufig assoziiert ist das chronische Müdigkeitssyndrom (chronic fatigue syndrome). Bei der Auslösung und Unterhaltung der Beschwerden spielt Stress eine besondere Rolle. Die Beschwerden betreffen diffuse Schmerzen an der Muskulatur und ihren Ansatzsehnen und an Bändern. Begleitet sind sie von einer erhöhten inneren Spannung, Stimmungsschwankungen, Angstgefühlen, Schlafstörungen und erhöhter Müdigkeit, Symptomen eines Reizdarmsyndroms und migräneartigen Kopfschmerzen. Die Behandlung beinhaltet in erster Linie Stressabbau, Physiotherapie zur Lockerung von Verspannungen, Bewegungstherapie (propagiert werden beispielsweise Tanzen, Nordic Walking), positive Motivation zur Depressionsbekämpfung und Medikamente wie Duloxetin und Pregabalin. Möglicherweise können in einigen Fällen auch andere Medikamente, wie Naltrexon und medizinisches Cannabis, sowie eine Akupunktur zur Beschwerdelinderung beitragen. |
Entstehung
Die Fibromyalgie (FM) wird als schmerzhafte rheumatische Erkrankung aufgefasst, bei der
- eine Überempfindlichkeit in bestimmten Funktionsabschnitten des Zentralnervensystems mit erniedrigter Schmerzschwelle
als wesentlicher pathogenetischer Faktor angenommen wird. Stress spielt eine auslösende Rolle. 4 Daher gehört das Krankheitsbild in die Nähe des Reizdarmsyndroms, der Reizblase oder auch des chronischen Müdigkeitssyndroms (chronic fatigue syndrome) und sensibler und psychischer Überempfindlichkeiten, die alle ebenfalls durch Stress ausgelöst oder verstärkt werden können. In einer Untersuchung war FM mit einem 1,54-fach erhöhten Risiko für das Reizdarmsyndrom verbunden. 5 Es wird angenommen, dass in vielen Fällen ein frühkindliches traumatisches Erlebnis an der Entwicklung der pathologischen Stressreaktion beteiligt ist. 6
Ursächlich für die erhöhte Schmerzempfindlichkiet soll ein dysfunktionales Transmittersystem im Gehirn mit Auswirkungen über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse auf die Stressantwort auf die Nebenniere sein: 7 die reaktive Cortisol-Produktion ist bei Fibromyalgie vermindert. 8 9
Substanz P und der exzitatorische Neurotransmitter Glutamat vermitteln im Zentralnervensystem die Schmerzempfindung (Nociception). Andererseits vermitteln Serotonin und Noradrenalin die Schmerz unterdrückenden Vorgänge. Entsprechend der Hypothese einer zentralen Überempfindlichkeit gegenüber Schmerz hat man bei der Fibromyalgie eine erhöhte Aktivität von Substanz P und Glutamat 10 11 sowie eine erniedrigte Aktivität von Serotonin und Noradrenalin 12 13 gefunden. Über die erhöhte Glutamat-Aktivität im Gehirn wird auch eine Verbindung zur Assoziation von Fibromyalgie und Migräne herstellbar. 11
Der erhöhten Schmerzempfindlichkeit liegt der FM neueren Erkenntnissen eine erhöhte neuroinflammatorische (entzündliche) Aktivität in bestimmten Windungen (Gyri) des Gehirns zugrunde. 14
Symptomatik
Im Vordergrund der Beschwerden bei der Fibromyalgie sind diffuse Schmerzen an der Muskulatur und ihren Ansatzsehnen und an Bändern, so dass die Muskelansätze zu diagnostisch verwertbaren „Triggerpunkten“ zählen. Begleitet wird die Schmerzbereitschaft von erhöhter innerer Spannung mit Stimmungsschwankungen, inklusive Angstgefühlen, Schlafstörungen und erhöhte Müdigkeit, Darmstörungen im Sinne eines Reizdarmsyndroms und migräneartigen Kopfschmerzen. Die Assoziation mit Müdigkeit lässt häufig auch an die Diagnose eines chronic fatigue syndroms (chronisches Müdigkeitssyndrom) denken. Beide Diagnosen überlappen sich. 15
Bei FM-Patienten kommt es allmählich zu einem kognitiven Abbau, verbunden mit Angst und Depression. Es können sich Störungen des Kiefergelenks, Zahnfehlstellungen und eine chronische Parodontitis entwickeln. Diese Symptome sind diagnostisch mit zu bewerten. 3
Diagnostik
Die Anamnese einer typischen Symptomatik leitet zur Diagnose, wenn andere rheumatologische und autoimmunologische Krankheiten nicht nachgewiesen werden können. Wegen der notwendigen Ausschlussdiagnostik wird oft die Bestimmung von Blutsenkungsgeschwindigkeit, Blutbild, Entzündungsparametern mit CRP und ggf. auch Procalcitonin, Rheumafaktor, Antistreptolysin-Titer, ANA und gegebenenfalls auch weiterer immunologischer Parameter durchgeführt.
Auch empfiehlt es sich, eine ausgiebige Tumordiagnostik durchzuführen, da viele der Symptome auch paraneoplastisch auftreten können.
Therapie
Basistherapie
- Eine psychologische Betreuung bezüglich einer oft verminderten Stressbewältigung ist empfehlenswert.
- Physiotherapeutische Maßnahmen helfen zur Lockerung muskulärer Verspannungen und Fehlhaltungen.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie der Fibromyalgie ist vielfach enttäuschend. Einige Linderung wurde mit Serotonin-Norepinephrin-Wiederaufnahmehemmern, Pregabalin, und Tramadol erzielt. 16
- Pregabalin lindert die Symptomatik der Fibromyalgie auch in vielen Patienten, bei denen andere Medikamente versagen. Eine Pause in der Medikation führt nach 2-4 Tagen zu einem Wiederanstieg der Schmerzstärke. 17 Es ist in Europa für die Behandlung der Fibromyalgie zugelassen. 18
- Trizyklische Antidepressiva sind Erfolg versprechend, haben jedoch oft Nebenwirkungen. Die neueren Serotonin-Norepinephrin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und Milnacipran haben weniger Auswirkungen auf andere Transmittersysteme und entsprechend weniger Nebenwirkungen. Sie verbessern nicht nur die Schmerzempfindung sondern auch andere Fibromyalgie-Symptome. 19 Sie verbessern nicht die Schlafprobleme. 20 21
- Naltrexon ist ein Opiat-Antagonist, der die Mikroglia und Entzündungsvorgänge im Gehirn positiv beeinflusst. In niedriger Dosis (4,5 mg) ist es gut verträglich und verbessert die Symtomatik bei Fibromyalgie inklusive der Schlaflosigkeit. Eine erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit ist mit besserem Ansprechen auf die Therapie assoziiert. 22 Untersuchungen mit höherer Dosis (50 mg) zeigten jedoch keinen eindeutigen Effekt. 23
- Eine Scheinbehandlung bringt im Vergleich mit einer gepulsten elektromagnetischen Feldtherapie betroffener Stellen keine signifikante Verbesserung der Schmerzen (nach der visuellen Analogskala), jedoch eine deutlich und hochsignifikante Verbesserung gegenüber dem Ausgangsbefund (- 11,95% und -12,95%). Ebenso war eine signifikante Verbesserung der Verspannungen und in dem „Fibromyalgia Impact Questionnaire“ (FIQ) festzustellen 24 Der Einfluss der Psyche scheint demnach eine besondere Rolle bei Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden zu haben, entsprechend groß ist der Placeboeffekt.
- Medizinisches Cannabis scheint ersten Berichten zufolge sich günstig auf das Beschwerdebild auszuwirken. 25
- Akupunktur vermag laut einer Cochrane-Übersicht möglicherweise bei einigen Patienten Beschwerden und Verspannungen zu bessern. 26
- Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS): Die häufig empfohlene Methode ist laut Metaanalysen nicht eindeutig wirksam. Es werden nur diskrete Hinweise auf eine Schmerzreduktion im Vergleich mit einer Scheintherapie festgestellt. 27 28
- Körperliche Bewegung: Bewegungstherapie, z. B. in Form von Tanzen oder Nordic Walking, verbessert bei vielen Betroffenen die Symptomatik erheblich. Allerdings ist die Datenlage noch schwach. 29 Auch aerobische Bewegungsübungen werden als potenziell günstig bewertet. 30 Patienten, die trotz Schmerzen an Bewegungsübungen teilnahmen, berichteten laut einer Studie über weniger Angstzustände, Depressionen und sonstigen negativen Affekten und waren offener für weitere Anforderungen. Daher wird eine Motivation zur Teilnahme an solchen Bewegungsübungen oder Aktionen (Nordic Walking etc.) propagiert. 31
Verweise
Cave: Dosierungen von Medikamenten nicht ungeprüft übernehmen!
Autor: Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (s. Impressum)
Referenzen
- Curr Opin Support Palliat Care. 2008 Jun;2(2):122-7 DOI: 10.1097/SPC.0b013e3283005479[↩]
- Rev Assoc Med Bras (1992). 2019 Nov 7;65(10):1265-1274[↩]
- Cureus. 2023 Mar 19;15(3):e36380. doi: 10.7759/cureus.36380[↩][↩]
- Arthritis Research and Therapy. 2007;9(4, article 216) [↩]
- Medicine (Baltimore). 2017 Apr;96(14):e6657. DOI: 10.1097/MD.0000000000006657[↩]
- Psychoneuroendocrinology. 2006;31(3):312–324[↩]
- Becker S et al. Pain Res Treat. 2012;2012:741746[↩]
- Psychoneuroendocrinology. 2000;25(1):1–35 [↩]
- Stress. 2007;10(1):13–25[↩]
- Arthritis and Rheumatism. 1994;37(11):1593–1601[↩]
- Current Pain and Headache Reports. 2007;11(5):343–351[↩][↩]
- Annals of the Rheumatic Diseases. 2007;66(9):1267–1268[↩]
- Journal of Pain. 2009;10(5):542–55[↩]
- PLoS One. 2021 Feb 8;16(2):e0246152. DOI: 10.1371/journal.pone.0246152.[↩]
- Clin Med (Lond). 2021 Jan;21(1):19-27. doi: 10.7861/clinmed.2020-1009[↩]
- Curr Opin Support Palliat Care. 2008 Jun;2(2):122-7[↩]
- Open Rheumatol J. 2010 Oct 11;4:35-8[↩]
- Br J Pain. 2018 Nov;12(4):250-256. doi: 10.1177/2049463718776336. Epub 2018 May 15.[↩]
- Am J Med. 2009 Dec;122(12 Suppl):S44-55[↩]
- Cochrane Database Syst Rev. 2018 Feb 28;2:CD010292. doi: 10.1002/14651858.CD010292.pub2.[↩]
- Daru. 2019 Jun;27(1):149-158. doi: 10.1007/s40199-019-00257-4[↩]
- Pain Med. 2009 May-Jun;10(4):663-72[↩]
- PLoS One. 2009;4(4):e5180[↩]
- Bioelectromagnetics. 2018 Jul;39(5):405-413. doi: 10.1002/bem.22127[↩]
- J Clin Rheumatol. 2018 Aug;24(5):255-258. doi: 10.1097/RHU.0000000000000702.[↩]
- Cochrane Database Syst Rev. 2013 May 31;(5):CD007070. doi: 10.1002/14651858.CD007070.pub2.[↩]
- J Pain. 2020 Nov-Dec;21(11-12):1085-1100. doi: 10.1016/j.jpain.2020.01.003[↩]
- Cochrane Database Syst Rev. 2018 Apr 13;4(4):CD008208. doi: 10.1002/14651858.CD008208.pub5[↩]
- Evid Based Complement Alternat Med. 2018 Oct 1;2018:8709748. doi: 10.1155/2018/8709748. eCollection 2018.[↩]
- Cochrane Database Syst Rev. 2017 Jun 21;6:CD012700. doi: 10.1002/14651858.CD012700.[↩]
- Rheumatol Int. 2021 Aug;41(8):1479-1484. doi: 10.1007/s00296-020-04719-w[↩]