Diabetische Neuropathie

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Diabetische Neuropathie bedeutet Störung der Nervenfunktion bei Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) und ist einer der bedeutsamsten diabetischen Folgeschäden. Wenn, wie zumeist, viele Nerven in die Funktionsstörung einbezogen sind, wird der Begriff „diabetische Polyneuropathie“ gewählt. Die häufigste Lokalisation ist die distale symmetrische Polyneuropathie an Beinen und Füßen. 1 Es sollen über 20% der Diabeteskranken daran leiden (engl. Studie). 2

Diabetes mellitus
Diabetes-Folgeschäden


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Allgemeines

Aufgrund des Symptommusters neurologischer Defizite wird sie in vier Typen eingeteilt: diffuse Neuropathie, Mononeuropathie, Radikulopathie und andere Neuropathien. Die diabetische periphere Neuropathie ist ein Hauptrisikofaktor für eine Geschwürbildung, Infektion, Deformität und Amputation an den unteren Extremitäten. Symptome von diabetischen Mikroangiopatien an anderen Organen sind häufig einer Neuropathie kombiniert und gehören zum Spektrum des diabetischen Spätsyndroms.

Entstehung

Die Entstehung der diabetischen Neuropathie wird mit einer Mikroangiopathie der Nerven erklärt. 3 4 5 Sie kann sowohl beim Typ-1- wie beim Typ-2-Diabetes auftreten.

An der Entstehung der diabetischen Mikroangiopathie ist ein Vitamin-D-Mangel beteiligt. Vitamin-D ist an der Regulierung von Neurotrophinen wie NGF (Nervenwachstumsfaktor) und NCH (neuronale Kalziumhomöostase) beteiligt, welche neuroprotektiv wirken. Ein Vitamin-D-Mangel fördert bei Diabetikern zu einer peripheren Neuropathie. Nicht-enzymatische Glykierungsprodukte entstehen bei erhöhtem Blutzucker und tragen bei der Mikroangiopathie zur Verdickung der Gefäßwände in den kleinsten Blutgefäßen der peripheren Nerven bei. Mit einer Vitamin-D-Supplementierung wurden die Neuropathie-Schmerzwerte verbessert. 6

Häufigkeit

Die diabetische Neuropathie hat eine relativ hohe Prävalenz. Sie liegt beim Typ-1-Diabetes zwischen 8 % und 63 % und beim Typ-2-Diabetes zwischen 13 % und 51 %. 7

Diagnostik und klinisches Bild

Die Neuropathie wird dann als diabetisch bedingt anzusehen sein, wenn andere Ursachen nicht nachweisbar sind. 8

Die Symptomatik betrifft sowohl

  • das periphere Nervensystem, dort überwiegend die Nerven der Beine, als auch
  • das autonome Nervensystem mit Auswirkungen auf die unterbewusste Regulation der Herzaktion und des Verdauungssystems.

Meist sind mehrere Nerven betroffen, so dass eine Polyneuropathie vorliegt. Das klinische Bild kann daher bunt sein. 9

Die diabetische periphere Polyneuropathie

Sie ist typischerweise überwiegend sensibel, symmetrisch und mit distaler Betonung an den unteren Extremitäten lokalisiert. Empfindungen sind

  • taubes Gefühl,
  • Gefühl von Kribbeln (wie Ameisenlaufen, Kribbelparästhesien) und
  • Schmerzen.

Oft wird sie grob in eine schmerzhafte und eine nicht schmerzhafte Neuropathie unterteilt.

Bei der neurologischen Prüfung fehlt eine Zuordnung zu bestimmten Nervenausbreitungen. Die Beschwerden sind meist an den Fußsohlen und an den Unterschenkeln am ersten auffällig. Die Ausbreitung verläuft typischerweise nicht entlang eines Nerven sondern über die Grenze einzelner Nerven hinaus strumpfförmig, was sich leicht durch lockeres Bestreichen der Haut nachweisen lässt. Das Lagegefühl (Tiefensensibilität) ist gestört, und die Nervenleitgeschwindigkeit ist herabgesetzt.

Die diabetische periphere Polyneuropathie kann das Lebensgefühl (QoL) erheblich beeinträchtigen: die Füße können brennen. Schlaflosigkeit, schlechte Lebensqualität und Arbeitslosigkeit und Depressionen bedeuten eine große persönliche Belastung mit gesellschaftlicher Auswirkung. 10

Die autonome Polyneuropathie

Sie betrifft die Innervation innerer Organe. Häufig steht eine Störung der Magenentleerung im Vordergrund; sie verläuft unkoordiniert bzw. verzögert ab und ist Ursache für das oft vorhandene Völlegefühl. Das entstehende Symptombild ist das einer diabetischen Gastropathie (siehe dort).

Neuropathische Funktionsstörungen

Folgende Organe sind häufig von der autonomen Polyneuropathie betroffen:

  • Herz: mit Frequenzstarre (Fehlen einer respiratorischen Arrhythmie) und herabgesetzter Schmerzempfindung bei Minderdurchblutung (Angina pectoris als Alarmsymptom eines instabilen koronaren Perfusion kann fehlen, Gefahr eines stummen, nicht erkannten Herzinfarkts),
  • Urogenitaltrakt: mit Blasenentleerungsstörung, Anorgasmie und erektiler Dysfunktion,
  • Kreislauf: mit mangelhafter Gegenregulation bei Lagewechsel und beim Wechsel zwischen körperlicher Anstrengung und Ruhe sowie
  • Endokrines System: Beispiel sind fehlende Warnhinweise bei Unterzuckerung (Hypoglykämie) wegen fehlender adrenerger Gegenregulation mit begleitendem Zittern, Tachykardie und Schwitzen.

Differenzialdiagnosen

Toxische Medikamente: Neuropathien können viele Ursachen haben. Eine relativ häufige ist die Reaktion auf toxische Medikamente, beispielsweise auf Chemotherapeutika.

Erbliche Disposition: Eine wichtige Differenzialdiagnose bei sonst unerklärter Ursache ist die hereditäre Neuropathie mit Hang zur Drucklähmung (hereditary neuropathy with liability to pressure palsy, HNPP). Ihr liegt ein Defektgen (Mikromutationen des PMP22-Gens, kodiert für das periphere Myelinprotein 22, wichtig zur Bildung der Nervenscheiden)  zugrunde. 11

Dazu siehe hier.

Therapie

Die Behandlung ist schwierig und sollte so frühzeitig wie möglich einsetzen: am wichtigsten ist eine gute Blutzuckerkontrolle durch Diät, körperliche Bewegung und medikamentöse Einstellung. Zur Behandlung der Symptomatik sind viele Medikamente eingesetzt worden. Folgende Behandlungsmaßnahmen werden diskutiert:

  • Thioctazid (alpha-Liponsäure) hat laut einer Meta-Analyse von Studien einen positiven Effekt auf die akuten Schmerzen und den Verlauf einer peripheren Polyneuropathie. 12 13 Danach wird empfohlen, in einer Kurzzeitbehandlung 600 mg/Tag intravenös zu verabreichen und anschließend eine orale Behandlung für 4-7 Monate anzuschließen. Dies würde auch eine kardiale autonome Neuropathie bessern können.
    • Brennendes Gefühl im Mund (burning mouth syndrome, BMS) ist eine Auswirkung einer diabetischen Neuropathie. Die Ergebnisse einer Metaanalyse zeigten, dass Alpha-Liponsäure (ALA) die Schmerzintensität (laut visueller Analogskala) verringerte. 14 Auch eine weitere Metaanalyse befindet, dass ALA bei BMS-Patienten wirksamer war als in der Placebo-kontrollierten Gruppe. 15
  • Studien mit Lacosamid (Vimpat®) 16 und Pregabalin (Lyrica®) 17 haben in einzelnen Studien positive Effekte bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie erkennen lassen. Nebenwirkungen, wie Schläfrigkeit, Konzentrationsmangel und ein B12-Mangel sind jedoch zu berücksichtigen (siehe hier).
  • Ein Transdermales Lidocain-Pflaster (Lokalanästheticum) hat ähnlich positive Effekte, jedoch weniger Nebenwirkungen als Pregabalin. 18 19 Es gehört heute zu den engeren Behandlungsoptionen bei schmerzhafter peripherer Polyneuropathie und erwies sich in der klinischen Routineversorgung als wirksam und gut verträglich. 20 Das Nutzen-Risiko-Profil wird als günstig betrachtet.
  • ACE-Hemmer sind eine Option zur Verbesserung der Nervendurchblutung bei Mikroangiopathie der Nerven. Eine Angiotensin-Rezeptor-Blockade greift ebenfalls an der Durchblutung der geschädigten Nerven an. In Tierexperimenten haben AT1-Rezeptorblocker (ARBs) sich bezüglich Schmerzminderung als den ACE-Hemmern überlegen gezeigt. 21

Verhinderung der Entstehung einer Mikroangiopathie

  • Eine Supplementierung von Vitamin D scheint einen Ansatz darzustellen, die Entstehung der an den peripheren Nerven stattfindenden Mikroangiopathie beim Diabetes zu verlangsamen. (s. o.) 6
  • Eine gute Blutzuckereinstellung ist die beste Vorsorge.

Leitlinienempfehlungen

Die Fachgesellschaften American Academy of Neurology, American Association of Neuromuscular und Electrodiagnostic Medicine und die American Academy of Physical Medicine und Rehabilitation empfahlen 2011 Pregabalin zur Linderung der schmerzhaften peripheren Neuropathie, PDN, (Level A). Die Substanzen Venlafaxin, Duloxetin, Amitriptylin, Gabapentin, Valproat, Opioide (Morphinsulfat, Tramadol und Oxycodon mit kontrollierter Freisetzung) und Capsaicin wurden als wahrscheinlich wirksam eingestuft und sollten für die Behandlung von PDN (Level B) in Betracht gezogen werden. 22

Die NICE-Guidelines (2023) 23 empfahlen als Erstbehandlung Amitriptylin, Duloxetin, Pregabalin oder Gabapentin. Für Amitryptilin sollte der Effekt nicht überschätzt werden. 24

Eine Kombination der bekannten wirksamen Medikamente wies in einer Langzeitstudie gegenüber einer Monotherapie eine weitere Verbesserung der Wirkung auf: Amitriptylin, ergänzt mit Pregabalin, sowie Pregabalin, ergänzt mit Amitriptylin, und Duloxetin, ergänzt mit Pregabalin führten zu einer weiteren Verminderung der neuropathischen Schmerzen. An Nebenwirkungen kam es zu einem signifikanten Anstieg von Schwindel im P-A-Weg, Übelkeit im D-P-Weg und Mundtrockenheit im A-P-Weg 25

Verweise

 

Referenzen

  1. Nat Rev Dis Primers. 2019 Jun 13;5(1):42. DOI: 10.1038/s41572-019-0097-9.[]
  2. Diabetes Care. 2011;34:2220–2224. doi: 10.2337/dc11-1108[]
  3. Ann Med. 2000 Feb;32(1):1-5. doi: 10.3109/07853890008995903[]
  4. Front Neurol. 2018 Feb 12;9:43. DOI: 10.3389/fneur.2018.00043[]
  5. Acta Neuropathol (2000) 100(4):445–50[]
  6. Curr Diabetes Rev. 2022 Aug 17. DOI: 10.2174/1573399819666220817121551[][]
  7. Diabetes Care. 2020;43(Suppl 1):S66–S76[]
  8. Diabetes Care. 2017;40(1):136–154. doi: 10.2337/dc16-2042[]
  9. Korean J Intern Med. 2020 Sep;35(5):1059-1069. doi: 10.3904/kjim.2020.202[]
  10. J Diabetes Complicat. 2006;20:26–33[]
  11. 2014 Mar 19;9:38. doi: 10.1186/1750-1172-9-38.[]
  12. Diabet Med. 2004 Feb;21(2):114-21 DOI: 10.1111/j.1464-5491.2004.01109.x[]
  13. Treat Endocrinol. 2004;3(3):173-89[]
  14. J Dent Anesth Pain Med. 2022 Oct;22(5):323-338. DOI: 10.17245/jdapm.2022.22.5.323[]
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  16. J Pain. 2009 Aug;10(8):818-28[]
  17. Reg Anesth Pain Med. 2008 Sep-Oct;33(5):389-94[]
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  24. Cochrane Database Syst Rev. 2015 Jul 6;2015(7):CD008242. DOI: 10.1002/14651858.CD008242.pub3[]
  25. Lancet. 2022 Aug 27;400(10353):680-690. DOI: 10.1016/S0140-6736(22)01472-6[]