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Allgemeines
Als Migräne (engl.: migraine) werden Kopfschmerzen bezeichnet, die häufig wiederkehren, oft anfallsartig, einseitig und pulsierend auftreten und meist mit Lichtscheu und Übelkeit verbunden sind. Betroffene leiden durchschnittlich zwischen 8 und 13 Tagen im Monat unter Kopfschmerzen und sind häufig während dieser Zeit arbeitsunfähig. Die Behandlung leichter und mittelschwerer Anfälle stützt sich meist auf NSAID (z. B. Naproxen) und Sumatriptan. Schwere Anfälle sind oft Anlass für eine stationäre Behandlung. Einer Vorbeugung kommt wegen der großen Verbreitung (etwa 14,4% der Weltbevölkerung) aus persönlicher, sozialer und wirtschaftlicher Perspektive eine hohe Bedeutung zu. (1)Lancet Neurol. 2018;17(11):954-976. doi: 10.1016/S1474-4422(18)30322-3 (2)JAMA. 2021 Jun 15;325(23):2357-2369. doi: 10.1001/jama.2021.7939. Spezielle Antikörper (s. u.) eröffnen eine Möglichkeit zur Reduktion der Kopfschmerztage.
→ Allgemeines zu Kopfschmerzen siehe hier.
Typische episodische Migräne
Migräne ist eine Kopfschmerzkrankheit, die mit über 10% relativ häufig in der Bevölkerung zu finden ist. Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.
Kennzeichnend ist eine Kombination von Symptomen. Die Kopfschmerzen sind
- meist einseitig,
- pulsierend,
- lang anhaltend
- begleitet von
- einer Überempfindlichkeit gegenüber Licht (Photophobie) oder Geräuschen und
- einer nicht organisch erklärbaren Übelkeit (alle Untersuchungsergebnisse in dieser Hinsicht bleiben ergebnislos).
Untypische Migräne
Manchmal bleiben die Kopfschmerzen nicht einseitig sondern breitet auf den ganzen Kopf aus. Auch ist auch nicht immer Erbrechen vorhanden, und es kann Augentränen hinzutreten. In solchen Fällen ist eine Differenzierung vom Cluster-Kopfschmerz schwierig.
Aura vor einem Migräneanfall
Gelegentlich werden vor einem Migräneanfall visuelle Verzerrungen und Wahnbilder (Blitze, gezackte Formen, helle Areale) wahrgenommen. Die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Tritt eine visuelle Aura auf, so wirken Kortisonpräparate, die sonst bei schweren Anfällen oft erfolgreich eingesetzt werden, nicht. In diesen Fällen kann laut einer Studie Valproinsäure hilfreich sein (3)PLoS One. 2015; 10(3): e0120229. Published online 2015 Mar 20. doi: 10.1371/journal.pone.0120229.
Entstehung
Die Ursache der Migräne ist noch nicht endgültig geklärt.
Bislang wurde davon ausgegangen, dass sich die Blutgefäße des Gehirns vor einem Migräneanfall stark verengen und anschließend besonders erweitern würden. Die Dehnung der Gefäßwände sollte den Schmerz auslösen. Dies scheint neueren Erkenntnissen zufolge nicht der Fall zu sein.
In den Vordergrund der Überlegungen tritt heute die Hypothese, dass im Bereich der Sehrinde eine übermäßige Aktivierung der Nervenzellen stattfindet, die sich ausbreitet. Sie wird als „kortikale Streudepolarisation“ bezeichnet. Gefolgt wird sie von einer langen Phase der Nicht-Erregbarkeit; dort wo zuvor helle Flecke gesehen wurden, können nun dunkle folgen. Im Rahmen der Übererregbarkeit werden auch die Äste des Trigeminus-Nerven erregt, was den Kopfschmerz bewirken soll. Wahrscheinlich spielt das Stammhirn mit seinem Trigeminus-Kern eine vermittelnde, verstärkende oder gar auslösende Rolle.
Signalwege und molekulare Einflussfaktoren
Die Moleküle und Signalwege, wie Migräne verursachen sind noch weitgehend unbekannt. Die Freisetzung von Molekülen wie dem Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) scheinen eine zentrale Rolle zu spielen. CGRP wird von kleinen, nichtmyelinisierten sensorischen (C-)Fasern freigesetzt, deren Überaktivierung offenbar zu einer neurogenen Entzündung führt. Auch andere Moleküle, wie das vasoaktive intestinale Polypeptid (VIP), Stickstoffmonoxid (NO), Adenylatcyclase-aktivierende Peptide (PACAP) und Amylin wird eine Rolle zugeschrieben. Es wird untersucht, ob und ggf. wie in dieses Geflecht von Interaktionen medikamentös eingegriffen werden kann. (4)Biomedicines. 2024 Mar 18;12(3):677. doi: 10.3390/biomedicines12030677
Genetische Verankerung
Oft findet man die Veranlagung zur Migräne in Familien bei mehreren Mitgliedern, so dass eine vererbbare Grundlage zu bestehen scheint. Sie ist jedoch noch nicht geklärt. Möglicherweise handelt es sich um eine genetisch bedingte Veränderung an den Ionenkanälchen zwischen den Glia- und den Nervenzellen, die über besondere Verbindungsstellen (die Gap-Junctions) Kalzium-Ionen austauschen können. Diese Hypothese ist insofern von praktischer Bedeutung, als sie eine medikamentöse Behandlungsmöglichkeit verspricht.
Auslöser
Migräne kann durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren ausgelöst werden. Häufige Auslöser sind:
- Stress,
- Hunger,
- Rauchen,
- Müdigkeit (Schlafverzögerung),
- übermäßige körperliche Anstrengungen und
- bei Frauen Antikonzeptiva.
Analgetikakopfschmerz: Die Migräne-Behandlung ist eine der wichtigsten Ursachen des Kopfschmerzes durch häufigen Gebrauch von Schmerzmitteln. Es handelt sich dabei um einen Analgetika-Rebound-Kopfschmerz (5)Headache 1996; 36:14. Daher sollte unbedingt auf einen zurückhaltenden und kontrollierten Gebrauch der Medikamente geachtet werden.
Migräneanfall
Der Ablauf eines Migräneanfalls lässt sich in verschiedene Phasen einteilen, die jedoch unterschiedlich ausgeprägt sein können.
- Die einleitenden Symptome: Ein Anfall kann sich über einige Stunden bis Tage durch unerklärliche Müdigkeit und Konzentrationsschwäche anbahnen. Bei etwa 60% der Migränepatienten kommt es für etwa 20-60 Minuten zu einer visuellen Aura mit optischen Erscheinungen.
- Die Kopfschmerzphase: Eine Kopfschmerzphase mit mehr oder minder ausgeprägter Übelkeit und Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Geräuschen gehört immer zum Migräneanfall. Diese Phase dauert unterschiedlich lang und liegt im Rahmen von 4 Stunden bis 3 Tagen.
- Die Abklingphase: In der anschließenden Phase des Abklingens, die über einige Stunden bis Tage andauert, wird oft über abnorme Erschöpfung und ein „Neben-sich-Stehen“ berichtet. Das Sehvermögen kann noch vorübergehend eingeschränkt sein.
Behandlung
Eine ursächliche Behandlung gibt es nicht. Es werden Medikamente entwickelt, die den Erregungssturm der Nervenzellen blockieren. Die Therapie zielt auf
- die Vorbeugung von Migräneattacken,
- die Akutbehandlung.
Behandlung des akuten Anfalls
Medikamente wirken umso effektiver, je früher sie genommen werden. Eine anfangs leichte Migräne kann sich rasch zu einer schweren Attacke weiterentwickeln, die in einer Notfalleinrichtung behandelt werden muss (6)Can Fam Physician. 2014 Jan;60(1):47-9.
Die Migräne-assoziierte Übelkeit kann meist mit Metoclopramid (MCP, intravenös oder als Suppositorium) gebessert werden.
“Hausmittel”: Der durch Selbsterfahrung geübte Rückzug in ein dunkles, ruhiges Zimmer verhindert eine Verschlechterung. Von den Betroffenen werden viele Medikamente ausprobiert; manchmal helfen Acetylsalizylsäure (Aspirin), Acetaminophen oder NSAID wie Ibuprofen oder Indometacin. Mit ihnen sollte zunächst Erfahrung gesammelt werden. Dihydroergotamin (DHE) wirkt bei milden Formen der Migräne, kann aber die Übelkeit verstärken und bei KHK-Patienten zum Herzinfarkt führen und sollte bei schwerer koronarer Herzkrankheit nicht verwendet werden. Es wird oft zusammen mit Koffein eingesetzt.
Chlorpromacin: Der akute Migräne-Kopfschmerz reagiert oft auf Chlorpromacin (intravenös).
Triptane: Mit am wirksamsten haben sich Präparate erwiesen, die Triptane enthalten. Es sind selektive Agonisten von Serotoninrezeptoren im Gehirn. Sie werden eingesetzt, wenn die “milden” Medikamente oder ihre Kombination nicht ausreichend anschlagen. Speziell Triptane (z. B. Sumatriptan, Applikation subkutan, nasal, oral, nicht mit Ergotaminpräparaten zusammen verwenden!) scheinen am Entstehungsmechanismus des Migränekopfschmerzes anzugreifen und daher relativ gut zu wirken. Zolmitriptan in einer Dosierung von 2,5 und 5 mg haben eine etwa gleiche Wirkung wie 50 mg Sumatriptan: 2 Stunden nach oraler Einnahme wurde in Studien bei etwa 1/5 der Patienten Schmerzfreiheit und bei 1/3 Schmerzbesserung erreicht (7)Cochrane Database Syst Rev. 2014 May 21;(5):CD008616. doi: 10.1002/14651858.CD008616.pub2.
Behandlung verschiedener Schweregrade
- Behandlung leichter Migräne: Möglichst frühzeitig sollte ein Versuch mit “nicht steroidalen antientzündlichen Medikamenten” (NSAID) (z. B. Naproxen) unternommen werden.
- Behandlung mittelgradiger Migräne: Vielfach wird die Meinung vertreten, dass bei Migräne mittleren und höheren Schweregrades gleich eine Migräne-spezifische Therapie (z. B. Sumatriptan, Zolmitriptan) eingeleitet werden solle (8)Neurology 2000; 54:1553. Die Kombination von Sumatriptan und Naproxen ist einer Sumatriptan-Monotherapie überlegen.
- Behandlung schwerer akuter Migräne: Vielfach wird Valproinsäure (Valproat) in die Behandlung schwerer akuter Migräne-Attacken einbezogen. Valproinsäure ist als Medikament zur Behandlung bipolarer psychischer Erkrankungen (Manie und Depression) bekannt (9)Cochrane Database Syst Rev. 2013 Oct 17;(10):CD003196. doi: 10.1002/14651858.CD003196.pub2.. Untersuchungen zeigen, dass eine intravenöse Applikation bei über 50% zu einer Besserung innerhalb einer halben Stunde führt und damit ähnlich wirksam ist wie intravenöses Dexamethason (10)Clin Exp Emerg Med. 2017 Sep 30;4(3):138-145. doi: 10.15441/ceem.16.199. eCollection 2017 Sep.. Wichtig ist es zu wissen, dass Valproat auch bei Kopfschmerzen wirkt, die von einer Aura (s. o.) begleitet werden; hierbei ist Dexamethason nicht effektiv (11)PLoS One. 2015; 10(3): e0120229. Published online 2015 Mar 20. doi: 10.1371/journal.pone.0120229.
- Atopegant ist eine neue Substanz, die über eine Hemmung des Rezeptors für das Hormon Calcitonin (calcitonin gene-related peptide (CGRP) receptor antagonist) wirkt. Sie reduziert die Zahl der Migränetage deutlich – in einer aktuellen Studie (je nach Dosis) um 4 Tage! Berücksichtigt man, dass unter Studienbedingungen auch Placebo zu einer Reduktion führt, so bleiben immer noch um 1,5 Tage, die gewonnen werden. Erklärung: CGRP ist ein Neuropeptid, welches über diesen Rezeptor im Gehirn zu einer Erweiterung der Blutgefäße führt. Diese Auswirkung wird durch Atopegant gehemmt. (12)N Engl J Med. 2021 Aug 19;385(8):695-706. DOI: 10.1056/NEJMoa2035908
Perspektive: Antikörper
Antikörper gegen das „calcitonin gene–related peptide (CGRP)“ versprechen eine neue Möglichkeit, Migräneanfälle zu verhindern (s. o.). Zwei Studien weisen nach, dass eine einmalige Injektion solcher Antikörper zu einem lang anhaltend vorbeugenden Effekt führt: die Zahl der monatlichen Tage mit Kopfschmerzen sank in den Studiengruppen
- unter einem Präparat (Fremanezumab) von etwa 13 auf 9 (13)N Engl J Med 2017; 377:2113-2122 November 30, 2017 DOI: 10.1056/NEJMoa1709038,
- unter dem anderen Präparat (Erenumab) von etwa 8 auf 5 (14)N Engl J Med 2017; 377:2123-2132 November 30, 2017 DOI: 10.1056/NEJMoa1705848.
Eine Wiederholung der Injektion ist jeweils erst nach vielen Wochen nötig. Erstaunlicherweise bewirkte auch Placebo eine deutliche Reduktion, in der Fremanezumab-Gruppe immerhin um 2,5 Tage. Migräne ist, wie sich hier wieder zeigt, in gewissem Maß auch psychisch mitbedingt.
Eine Studie untersuchte die Auswirkungen monoklonaler Antikörper (mAbs), die auf das Calcitonin-Gen-verwandte Peptid (CGRP) oder seinen Rezeptor (Anti-CGRP/R-mAbs). Therapieresistente Migräne-Patienten wurden 3 Monate lang mit Anti-CGRP/R-mAbs behandelt. Es wurde gezeigt, dass Anti-CGRP/R-Antikörper Schmerzen, Müdigkeit und sensorische Sensibilisierung verbesserten. (15)Biomedicines. 2024 Mar 18;12(3):677. doi: 10.3390/biomedicines12030677
Vorbeugung
- Bekannte Auslöser, wie Stress, Hunger, Rauchen, Müdigkeit (Schlafverzögerung), übermäßige körperliche Anstrengungen und bei Frauen Antikonzeptiva, sind zu vermeiden.
- Eine gute Schlafhygiene und ein geregelter Tagesablauf mit normalen Essenszeiten sind in jedem Fall zu empfehlen.
- Eine physikalische Behandlung von Nackenverspannungen und Entspannungsübungen können auf die Kopfschmerzen günstig wirken.
Durch solche Maßnahmen besteht die Chance, eine chronische Migräne in eine episodische Migräne zu überführen. Die Veranlagung zu Migränekopfschmerzen bleibt bestehen.
Für eine medikamentöse Vorbeugung kommen in erster Linie Divalproex, Topiramat, Metoprolol, Propranolol und Timolol infrage. In zweiter Linie werden Amitriptylin, Venlafaxin, Atenolol und Nadolol empfohlen. Beta-Blocker (wie Propranolol oder Metoprolol) versprechen eine gewisse Vorbeugung. Auch können individuell Amitryptilin oder Valproinsäure zu einer Vorbeugung dienen. Valproinsäure sollte Frauen im gebärfähigen Alter jedoch nicht verabreicht werden. Acetaminophen wird gelegentlich zur Vorbeugung verwendet, hat aber einen nur gering ausgeprägten Effekt: die NNT (number needed to treat) liegt für die akute Migräne bei 12 (man muss 12 Patienten behandeln, damit einer profitiert). (16)Headache. 2015 Jan;55(1):3-20. doi: 10.1111/head.12499 Ibuprofen kann bei Kindern und Heranwachsenden die Schmerzstärke verringern. (17)Cochrane Database Syst Rev. 2016 Apr 19;4(4):CD005220. DOI: 10.1002/14651858.CD005220.pub2.
Injektionen von Botulinustoxin sollen statistisch zu einer Reduktion der Anfallshäufigkeit führen. Die Methode kann ggf. in Betracht kommen, wenn andere Therapien versagen. (18)Acta Neurol Scand. 2018 May;137(5):442-451. DOI: 10.1111/ane.12906
Als wenig oder nicht effektiv werden folgende Substanzen eingestuft: Nebivolol, Bisoprolol, Pindolol, Carbamazepin, Gabapentin, Fluoxetin, Nicardipin, Verapamil, Nimodipin, Nifedipin, Lisinopril sowie Candesartan. Acebutolol, Oxcarbazepin, Lamotrigin und Telmisartan. (19)Am Fam Physician. 2019 Jan 1;99(1):17-24. PMID: 30600979.
Eine vorbeugende medikamentöse Therapie mit Schmerzmitteln ist problematisch: einmal wegen der Nebenwirkungen, dann auch wegen der Gefahr, einen überlagernden Medikamentenkopfschmerz auszulösen. Denn chronische Verwendung von Kopfschmerzmitteln können paradoxerweise zu therapieresistenten Kopfschmerzen führen!
Dass sich Anfälle unter vorbeugenden Maßnahmen ganz vermeiden lassen, ist nicht erwartbar.
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Verweise
Literatur