Neuroprotektion

Neuroprotektion bedeutet Verhinderung oder Verminderung einer Schädigung von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark sowie die Förderung ihrer Regeneration. Durch neuroprotektive Medikamente können Nervenschäden (Neuropathien) verhindert oder gelindert werden.

Das Wichtigste verständlich

Kurzgefasst

Neuroprotektion bedeutet Schutz von Nerven- und Gehirnzellen vor einer Schädigung. Die Forschung hat eine Reihe von Substanzen entdeckt und erforscht, die helfen, eine solche Schädigung zu verhindern oder zu verringern, oder sogar zu einer Funktionsbesserung zu verhelfen.

Dies ist insbesondere von dann Interesse, wenn es gilt, schädigenden Bedingungen, wie Medikamenten- oder Drogenwirkungen, entgegenzuwirken oder eine beginnende Demenz aufzuhalten.

Zu den Substanzen, die neuroprotektiv wirken, gehören viele Naturheilmittel, körpereigene Stoffe und Medikamente. Inzwischen werden gezielt Medikamente entwickelt, die eine verstärkte Wirkung und verminderte Nebenwirkungen entfalten.

Das Gehirn
Neuroprotektion


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Pathophysiologie

Nervenschädigende Einflüsse wie Sauerstoffmangel, eine degenerative Erkrankung des Gehirns oder neurotoxische Medikamente werden durch Neuroprotektion vermindert oder aufgehoben.

  • Rolle des BDNF (brain derived neurotropic factor): Das Nervensystem bildet selbst einen Schutzmechanismus, den BDNF, der beispielsweise nach Verletzungen oder einem Sauerstoffmangel (z. B. im Randgebiet eines Hirninfarkts) lokal gebildet wird. Die Bildung des BDNF wird durch Östrogene gefördert. BDNF vermindert beispielsweise auch die neuronale Degeneration bei der HIV-Enzephalopathie. 1
  • Rolle der Mitochondrien: 2 3 Ein wesentlicher Mechanismus der Nervenzellschädigung ist oxidativer Stress, bei dem die Funktion der Mitochondrien im Mittelpunkt des Interesses steht. Beschädigte Mitochondrien induzieren die Apoptose neuronaler Zellen, indem sie reaktive Sauerstoffspezies (ROS) und weitere pro-apoptotische Faktoren freisetzen.
  • Östrogene stabilisieren die Mitochondrienfunktion und wirken damit neuroprotektiv. 4 5
  • Rolle der Gehirn-Aromatase 6 Das Gehirn produziert lokales Östrogen durch die Wirkung der Gehirn-Aromatase.
  • Rolle der Östrogene: 7 Sowohl das zirkulierende (aus den Ovarien stammende) als auch das lokal in der Astroglia gebildete Östrogen erhöht den lokalen Östrogenspiegel so, dass die Auflösung geschädigter Nervenzellen (Apoptose) unterdrückt wird.
  • Rolle endogener Opioide: 8 Eine Hochregulation der im Gehirn gebildeten Opioide und der Delta-Opioid Rezeptoren (DOR) erhöht die Ischämietoleranz der Nervenzellen.
  • Rolle des Neuromelanins in der Substantia nigra: Sie sequestriert toxisches Eisen, Pestizide und andere toxische Substanzen und wirkt so neuroprotektiv (siehe auch unter Morbus Parkinson).
  • Rolle von Neuritin: es stimuliert in vielfältiger Weise die Prozesse, die die Informationsverarbeitung und -weiterleitung fördern sowie die Regeneration von Nervenzellen im Hippocampus. Ein Neuritinmangel ist mit der Entwicklung einer Demenz und einer peripheren Neuropathie verbunden.

Inzwischen werden in tierexperimentellen Modellen Untersuchungen zur Schutzwirkung von Substanzen im Nervensystem durchgeführt, die zu einem therapeutischen Konzept bei Erkrankungen wie der Nervenschädigung beim Schlaganfall, dem Morbus Parkinson, der Alzheimer Krankheit, der multiplen Sklerose, der HIV-1-Enzephalopathie oder der Schizophrenie führen sollen. Dabei sind bei einer Reihe von Substanzen neuroprotektive Eigenschaften entdeckt worden (s. u.).

Neuroprotektive Substanzen

Der Schutz der Gehirns und des Nervensystems (Neuroprotektion) ist Ziel einer pharmakologischen Forschungsrichtung. Tiermodelle zur Testung der neuroprotektiven Wirkung von Substanzen sind beispielsweise eine Hirnschädigung durch Metamphetamin, durch Haloperidol, Glutamat oder die Ischämie bzw. der Sauerstoffmangel-Stress.

Unter den Neuroprotektiva sind eine Reihe physiologischer (körpereigener) und anderer Substanzen experimentell (Tierversuche, biochemische Untersuchungen, Studien an Zellen oder Zellkulturen) ins Blickfeld geraten:

  • Östrogene: Östrogene und Progesteron wirken neuroprotektiv z. B. bei der traumatischen Schädigung des Gehirns und des Rückenmarks 9.
  • Resveratrol: 10 es wirkt möglicherweise über eine verstärkte mitochondriale Biogenese,
  • Curcumin: 11 es verhindert Zelluntergänge durch Apoptose bzw. stärkt die Autophagie. Es verhindert die neurotoxische Wirkung von Cisplatin 12 (siehe hier).
  • Karotinoide: 13 Retinolsäure und seine Derivate üben Effekte auf einige Neurotransmitter aus. Insbesondere erhöht es die  Überträgerfunktion cholinerger Neurone und hemmt die Bildung von Beta-Amyloid, was sich positiv auf z. B. den Morbus Alzheimer auswirken kann 14 15. Retinolsäure befördert zudem die Reparatur von Genen, die für die Aufrechterhaltung der Synapsenstruktur im Gehirn zuständig sind 16.
  • Opioide: 17 eine Erhöhung der Delta-Opioid-Rezeptoren (DOR) im Gehirn und endogene Opioide vermögen die neuronale Toleranz gegenüber hypoxischem Stress (Sauerstoffmangel) zu erhöhen, 8
  • Leptin: 10 es wirkt möglicherweise über eine Reduktion des oxidativen Stresses,
  • Melatonin: 10 es wirkt antioxidativ, zudem verstärkt es die Antiapoptose bei ischämischer Zellschädigung, 18 Beim Glaukom hemmt es die Überaktivierung des NMDA-Rezeptors durch Glutamat, die zu oxidativem Stress führt. 19
  • Ginkgo biloba Extract (EGb 761): Er schützt vor dem schädigenden Effekt einer cerebralen Ischämie, 20
  • Vitamin E (in nanomolarer Konzentration), 21
  • Valproinsäure 22: es wirkt u. a. die Hemmung der Histon-Deacetylasen, so dass die Histone hyperacetyliert werden,
  • Erythropoetin: es verbessert bei Schizophrenie kognitive Funktionen und reduziert Haloperidol-induzierte Hirnschäden. 23 EPO induziert die Bildung von BDNF (brain derived neurotropic factor) und verhindert die Haloperidol-induzierte Verminderung des BDNF. 24 (Bei der Schizophrenie sind im Hippocampus sehr viel mehr EPO-Rezeptoren vorhanden als bei Kontrollen.)
  • Aktiviertes Protein C (APC): regt die Neubildung von Blutgefäßen an und auch die von Nervenzellen. 25
  • Tacrolimus: Es vermindert des neuronalen Schaden nach Schädigung mit Pilocarpin 26 oder nach Rückenmarksverletzung. 27
  • Entzündungshemmende Medikamente können möglicherweise die Aktivierung neuroinflammatorischer Gliazellen verhindern und damit neurodegenerative Prozesse (wie den Morbus Parkinson) unterdrücken. 28
  • Pregabalin schützt Cortex-Nervenzellen vor experimenteller Schädigung 29 und reduziert den Verlust von Nervenzellen im Mausmodell des Schlaganfalls. 30
  • Gabapentin schützt das Rückenmark 31 und das Gehirn 32 vor Ischämieschäden.
  • Donepezil ist nicht nur ein Cholinesterasehemmer sondern greift auch an anderen Stellen im Stoffwechsel des Gehirns an. Es verbessert die Gedächtnisleistung bei Alzheimer-Demenz und es führt zu einer erhöhten Regeneration von Purkinje-Zellen im Tiermodell der Niemann-Pick-Krankheit (siehe hier).
  • Inkretinmimetika (z. B. Liraglutid) wirken laut Tierversuchen degenerative Hirnerkrankungen (z. B. Morbus Alzheimer) entgegen und reduzieren die Plaque-Beladung (siehe hier).
  • Rho-Kinase-Inhibitoren schützen die Sehzellen (Ganglienzellen der Netzhaut) beim Glaukom. Der Wirkmechanismus beinhaltet einen verbesserten Kammerwasserabfluss und eine Förderung der Regeneration von Axonen und des Zellüberlebens. 33
  • Cannabidiol (CBD) vermindert Hirnschäden bei neurodegenerativen und/oder ischämischen Krankheiten und schwächt psychotische, ängstliche und depressive Verhaltensstörungen ab. 34

Aussicht

Einige der neuroprotektiven Substanzen werden derzeit modifiziert, um „Nebenwirkungen“ zu minimieren und die neuroprotektive Wirkung zu erhalten oder zu steigern.

  • Das APC-Analogon 3K3A-APC wirkt neuroprotektiv, aber im Gegensatz zu APC (aktiviertes Protein C) nicht mehr blutungsfördernd. Es wird als mögliche neue Option zur Behandlung des ischämischen Schlaganfalls angesehen. 35 Es stimuliert zudem die Teilung und Differenzierung von fetalen menschlichen neuralen Stamm- und Vorläuferzellen. 36
  • Das Östrogen 17beta-Östradiol zeigt keine wesentliche Östrogenwirkung mehr, hat aber seine neuroprotektive Wirkung behalten 37; dabei spielen die neuronalen Rezeptoren die entscheidende Rolle und nicht die Rezeptoren den Mikroglia. 38

Eine wirksame Neuroprotektion kann eine breite Anwendung finden, sowohl bei der Behandlung von entzündlichen, hypoxischen oder traumatischen Hirnschäden als auch zur Erhaltung der zerebralen Leistungsfähigkeit bei degenerativen Erkrankungen (wie dem M. Alzheimer) oder dem „Altersabbau des Gehirns“.


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Verweise

Referenzen

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  2. Brain Res Rev. 2008 Mar;57(2):421-30[]
  3. Apoptosis. 2021 Apr;26(3-4):163-183. doi: 10.1007/s10495-021-01661-5[]
  4. Rev Neurol (Paris). 2014 May;170(5):390-400. DOI: 10.1016/j.neurol.2014.03.005[]
  5. Curr Drug Targets CNS Neurol Disord. 2005 Feb;4(1):69-83. DOI: 10.2174/1568007053005073[]
  6. Front Neuroendocrinol. 2009 Jul;30(2):106-18[]
  7. Steroids. 2009 Jul;74(7):555-61[]
  8. Sheng Li Xue Bao. 2009 Dec 25;61(6):585-92[][]
  9. Brotfain E et al. Curr Neuropharmacol. 2016 Mar 9. [Epub ahead of print][]
  10. Molecules. 2009 Dec 7;14(12):5054-102[][][]
  11. Lin MS et al. J Surg Res. 2009 Aug 5[]
  12. Exp Neurobiol. 2015 Jun;24(2):139-45[]
  13. Moon HI et al. Phytother Res. 2009 Dec 29.[]
  14. Expert Rev Neurother. 2015 Mar;15(3):239-49[]
  15. Neurochem Int. 2011 Oct;59(5):535-41[]
  16. Neural Plast. 2016;2016:3707406. doi: 10.1155/2016/3707406.[]
  17. Cell Mol Life Sci. 2009 Nov;66(21):3505-16[]
  18. J Pineal Res. 2008 Jan;44(1):101-6[]
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  20. Am J Chin Med. 2010;38(4):727-34[]
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