Wachkoma

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Das Wachkoma ist eine erworbene anhaltend schwere Beeinträchtigung der bewussten Hirnfunktionen mit einer Form der Bewusstlosigkeit, bei der eine scheinbare Wachheit imponiert. Es ist auch als apallisches Syndrom bekannt (engl.: continuous oder permanent vegetative state, besser nach der European Task Force on Disorders of Consciousness: unresponsive wakefulness syndrome, UWS).

Siehe auch Bewusstsein und Gehirn.


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Zur Definition

Im Wachkoma bleiben die vegetativen Funktionen, die unterhalb der Großhirnebene reguliert werden, erhalten.

Besteht ein Wachkoma länger als 4 Wochen, so wird von einem „continuous vegetative state“ (CVS) gesprochen. Ein „permanent vegetative state“ liegt vor, wenn eine Großhirnfunktion nach ausgiebiger Testung auch nach 1 Jahr Beobachtung (UK) nicht nachweisbar ist. Die Abgrenzung des Wachkomas zu einem Zustand minimalen Bewusstseins („minimal conscious state“, MCS) bedarf einer differenzierten und ausführlichen Diagnostik 1.

Pathophysiologie

Häufigste Ursachen eines Wachkomas sind

  • eine lange anhaltende Sauerstoffuntersättigung des Gehirns, die zu einem hypoxischen Hirnschaden führt (z. B. nach Herzstillstand), und
  • ein schweres Hirntrauma.

Als Ursache der fehlenden Wiederaufnahme der Hirnfunktion nach einem schweren hypoxischen oder traumatischen Hirnschaden wird eine Fehlschaltung im Gehirn mit mangelhafter „Plastizität“ der thalamokortikalen Verbindungen angenommen. Plastizität bedeutet in diesem Zusammenhang die Fähigkeit zur Veränderung von Verknüpfung von Nervenzellen im Gehirn, die es ermöglicht, Schaltungen neu zu formen, zu reaktivieren oder stillzulegen. Abgestorbene Nervenzellen können durch diese Fähigkeit umgangen werden. Eine Wiedererlangung einer Funktionsfähigkeit zentraler Schaltkreise des Großhirns, die mit Bewusstsein verknüpft ist, fehlt. Die Funktion tiefer gelegener Hirnbezirke, die für die unbewussten, vegetativen Regulationen des Körpers wie Temperatur und Blutdruck zuständig sind, bleibt in der Regel unbeeinträchtigt. Dazu siehe unter „Bewusstsein und Gehirn„.

Klinisches Bild

Beim Wachkoma (UWS) imponiert eine körperliche Aktivität mit offenen irrenden bzw. nicht fixierenden Augen. Oberflächlich entsteht der Eindruck, als ob der Betreffende wach wäre, allerdings ohne den Anschein eines tatsächlich bewussten Wahrnehmens der Umgebung. Reaktionen auf Umgebungsreize fehlen. Der Begriff „unresponsive wakefulness syndrome“ (UWS), der vielfach favorisiert wird, trifft diesen Umstand gut, ebenso der in Australien gebrauchte Begriff „post coma unresponsiveness“.

Die körperlichen Reaktionen beschränken sich weitgehend auf vegetative Funktionen der Kreislauf- und Temperaturregulation und der Verdauung – alles erhalten gebliebene Funktionen des Zwischen- und Stammhirns, nicht des Großhirns.

Prognose

Sind die Großhirnfunktionen vollständig oder teilweise wiedererlangbar, so wird im englischen Sprachgebrauch von einem „persistent vegetative state“ gesprochen; sind sie das nicht, von einem „permanent vegetative state“. Die Unterscheidung kann meist nur im Nachhinein angewendet werden.

Ein Wachkoma, das über ½ Jahr anhält, ist aller Voraussicht nach ein „permanent vegetative state“. Es gibt jedoch immer wieder Einzelfälle, bei denen selbst nach mehreren Monaten ein Bewusstsein wiedererlangt wurde, so dass dies im Nachhinein eine Fehldiagnose war.

Eine Berechtigung, nach einer gewissen Zeit lebenserhaltende Maßnahmen abzuschalten, wie sie in den USA nach bereits 3 Monaten abgeleitet wird, wird dadurch in manchen Fällen fragwürdig.

fMRI-Untersuchungen: Einen hohen prognostischen Aussagewert hat die Beobachtung, ob ein Patient im Wachkoma in irgendeiner Weise auf die Anrufung des eigenen Namens reagiert. Getestet wurde dies in einer Studie mit Hilfe von fMRI-Darstellungen lokalisierbarer Gehirnaktivitäten 2.

Prognosescore: In einer Studie wurden motorische Reaktionen, die Art der Hirnschädigung, die Reaktivität im Elektroenzephalogramm, Schlafspindeln und N20 als unabhängige Prädiktoren für die Erholung des Bewusstseins identifiziert. Aus diesen Parametern wurde ein Prognose-Score abgeleitet 3, der von Neurologen und Intensivmedizinern angewendet wird.

Ursache

In der Regel liegt einem Wachkoma eine vorübergehende Hypoxie bzw. Anoxie (relativer schwerer bzw. absoluter Sauerstoffmangel) des Gehirns zugrunde. Bereits nach wenigen Sekunden einer Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn kommt es zum Erliegen der Aktivität der Nervenzellen (Neurone), nach etwa 10 Minuten zu ihrem Absterben (zum Gehirn siehe hier).

Die häufigsten Ursachen sind

  • akute traumatische Hirnschäden (z. B. bei Verkehrsunfall oder nach Aneurysmablutung),
  • Mangeldurchblutungen im Rahmen einer verzögerten Reanimation (z. B. bei einem Herzinfarkt oder nach Ertrinken).
  • eine ausgeprägte disseminierte Enzephalitis (Entzündung des Gehirns).

Diagnostik

Die Diagnose eines Wachkomas ist schwierig und mit einer hohen Fehlerrate (von etwa 40% 4 ) behaftet. Seine Abgrenzung zu einem Zustand minimalen Bewusstseins und zum „Locked-in-Syndrom“, bei dem Bewusstsein vorliegt, jedoch keine Möglichkeit sich zu äußern, bleibt in jedem einzelnen Fall eine große Herausforderung.

Die klinische Untersuchung steht am Beginn und hat einen hohen Stellenwert. Es muss herausgefunden werden, ob das Bewusstsein durch eine mangelhafte Fähigkeit zur Kommunikation maskiert ist, so durch eine schwere Beeinträchtigung des Patienten sich zu bewegen und (optische, akustische, taktile) Reize aufzunehmen. Es gilt, einen Zustand minimalen Bewusstseins nicht zu verkennen.

Eine fehlende Fixierfähigkeit der Augen, der fehlende Lidschlussreflex bei rascher Annäherung der Untersucherhand und fehlende mimische Reaktion auf Kneifen sind bezüglich eines Wachkomas meist bereits sehr aussagekräftig. Eine irgendwie nachweisbare (auch nur vegetative) Reaktion (z. B. Pupillenreaktion) auf die Ansprache mit dem eigenen Namen weist auf einen Zustand minimalen Bewusstseins.

Die klinische Untersuchung sollte strukturiert ablaufen und sich nach den Vorgaben des Coma Recovery Scale (revidiert: CRS-R) richten 5.

Das EEG (Elektroenzephalogramm) vermag Großhirnaktivitäten zu detektieren. ERP’s („Event-related Potentials“) sind recht aussagekräftige Veränderungen, die aus Langzeit-EEGs extrahierbar sind und sich zur Identifizierung von minimalem Bewusstsein zu eignen scheinen 6.

Das funktionelle „Neuroimaging“ z. B. mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) und der Positronenemissionstomographie (PET) wird von einigen Spezialzentren angewendet, um die Diagnose einer fehlenden Großhirnfunktion zu untermauern. Die bisherigen Erfahrungen jedoch besagen, dass die fMRI-Ergebnisse nicht sensitiv genug einen Zustand eines minimalen Bewusstseins ausschließen kann 4. Ein minimal-bewusster Zustand konnte in einer Studie mit PET (zerebrales (18)F-FDG PET) jedoch mit einer hohen Sensitivität (93%) richtig diagnostiziert werden 7.

Diagnostik von Komplikationen (s. u.): Zur Diagnostik bei Wachkomapatienten gehört die ständige Überprüfung auf mögliche Komplikationen. So ist vor allem das Risiko einer Lungenentzündung (Pneumonie) und einer aufsteigenden Harnwegsinfektion (ausgehend vom notwendigerweise gelegten Blasenkatheter) erheblich erhöht.


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Komplikationen

Ganz generell drohen Infektionen, vor allem der Lungen (Pneumonie) und des Harnwegssystems.

Eine meist sehr ausgeprägte spastische Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten) mit Myoklonien (Muskelkrämpfe) führt zu Versteifungen in unnatürlichen Körperhaltungen, die es bei einem Wiedererwachen praktisch unmöglich machen, eine normale Beweglichkeit wiederzuerlangen.

Die Gefahr eines Dekubitus (Wundliegen) ist bei fehlender Eigenbewegung besonders groß.

Therapie

Eine Wiedererlangung von Bewusstsein und Selbständigkeit nach einem Wachkoma ist sehr selten. Aber ein Bewusstsein mit beschränkter Bewegungsfähigkeit liegt bei Patienten mit einem „minimal conscious state“ im Bereich der Erreichbarkeit 8.

Die symptomatische Behandlung beschränkt sich im Wesentlichen auf lebenserhaltende und Maßnahmen zur Vorbeugung von Komplikationen und gegen Spastik-bedingte Verkrümmungen und Krämpfe (z. B. Baclofen, ggf. Antiepileptika).

Eine ursächliche Behandlung der neuronalen Mangelfunktion ist derzeit nicht bekannt. Ziel wäre es,  die mangelhafte Plastizität der thalamokortikalen Bahnen im Gehirn zu verbessern 9. Einige experimentelle Ansätze lassen jedoch vermuten, dass Fortschritte erzielt werden können.

Spezielle Maßnahmen

Neuroprotektiva: Untersuchungen zur Regeneration von Hirngewebe und zur Neuroprotektion (Schutz von Zellen des Gehirns) direkt nach dem hirnschädigenden Ereignis können möglicherweise die Prognose zukünftig bessern.

  • Xenon: Eine Hoffnung wird auf Xenon gesetzt, welches sich als neuroprotektiv bei traumatischen Hirnschäden erwiesen hat 10.
  • Amantadin: Dieses Medikament steigert den Dopamingehalt von Synapsen im Gehirn. Es scheint in Einzelfällen einen günstigen Effekt auf die Wiedererlangung des Bewusstseins auszuüben. In einem Fall wurde ihm das Erwachens aus einem „vegetative state“ mit schwerer spastischer Tetraparese zugeschrieben 11.

Musiktherapie: Eine Musiktherapie wird als Methode zur Erkennung basaler Bewusstseinsprozesse und zu ihrer Förderung eingesetzt 12. Es wurde mit PET-Untersuchungen festgestellt, dass Musik die Stoffwechselaktivität im Frontalhirn, Hippokampus und Kleinhirn (Cerebellum) anregt 13.

Transkranielle fokusiierte extrakorporale Schockwellen haben sich als Stimulans für die Bildung von Nervenwachstumsfaktoren und damit für die Neuorientierung und das Wachstum von Nervenfasern herausgestellt. In einer kleinen Studie an 2 Patienten, die bereits 8 und 18 Jahre in einem Wachkoma lagen, hat eine mehrfache Schockwellenbehandlung zu einer deutlichen Verbesserung in der Hirnfunktion nach der Glasgow-Koma-Skala geführt 14. Ob sich damit ein neuer Therapieansatz ergibt, steht noch zu prüfen.

Transkranielle Stimulation:

  • Eine transkranielle Magnetstimulationdes Gehirns führte in einer Untersuchung an 25 schwer hirngeschädigten Personen zu einer vermehrten Hirnaktivität (Konnektivität verschiedener Hirnbezirke) nicht nur einem erkennbar minimalen Bewusstseinszustand, sondern sie demaskierte auch bei einigen Patienten mit „unresponsive wakefulness syndrome (UWS)“ ein zuvor nicht erkennbares, aber doch noch vorhandenes minimales Bewusstsein 15. In einer anderen Untersuchung an 16 Patienten mit UWS (unresponsive wakefulness Syndrome) zeigte sich bei  allen 5 MCS-Patienten und bei 4/11 VS/UWS-Patienten eine Verbesserung des CRS-R-Scores (JFK Coma Recovery Scale-Revised (CRS-R) scale), wobei insbesondere die Patienten mit einem minimalen Bewusstsein profitierten. 16
  • Tiefe Gehirnstimulation: Eine tiefe Gehirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS) hat sich bei Bewusstseinsstörungen als Erfolg versprechend herausgestellt 17. In einer kleinen Studie an 14 Patienten hat sie sich auch bei Patienten mit einem minimalen Bewusstseinszustand „minimal conscious state“ als beschränkt wirkungsvoll erwiesen. Von insgesamt 14 Patienten mit VS (vegetative state) und MCS (minimal conscious state) kam es zu einer Besserung bei 4. Von den MCS-Patienten erlangten 2 das Bewusstsein und konnten fließend sprechen, sich bewegen und selbständig leben; einer blieb rollstuhlpflichtig. Von den VS-Patienten besserte sich einer bis zum Niveau eines niedrigen Bewusstseins mit Reaktionen auf einfache Anweisungen 18.
  • Eine zentrale thalamische tiefe Hirnstimulation (Central thalamic deep brain stimulation (CT-DBS) ) ergab in einer kleinen Serie von Einzelbeobachtungen mit 24-monatiger Nachkontrolle eine signifikante Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit, der Nahrungsaufnahme, der motorischen Fähigkeiten und der Objektbenennung 19.

Therapieabbruch

Die Problematik eines evtl. in Frage stehenden Therapieabbruchs bei „persistierendem vegetativem Stadium“ ist ein ethisches Dilemma 20. Sie kann oft durch aussagekräftige und wirksame Verfügungen (Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Vorsorgevollmacht) in einer Weise gelöst werden, die dem Selbstbestimmungsrecht von Patienten gerecht wird. Eventuell während einer Wachkomaphase erzielte Fortschritte in den medizinischen Möglichkeiten sollten in solchen Verfügungen berücksichtigt werden.

Verweise

 


Autor der Seite ist Prof. Dr. Hans-Peter Buscher (siehe Impressum).


Referenzen

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  3. Crit Care. 2014 Feb 26;18(1):R37. doi: 10.1186/cc13745[]
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  5. Arch Phys Med Rehabil. 2010 Dec;91(12):1795-813[]
  6. Behav Neurol. 2015;2015:145913. doi: 10.1155/2015/145913[]
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  8. 2017 Jun 16:1-10. doi: 10.3171/2016.10.JNS161071.[]
  9. Brain Stimul. 2015 Jan-Feb;8(1):97-104[]
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