Neuritin

Veröffentlicht von

Neuritin ist ein neurotropes Protein, das vielfältige Wirkungen im Körper ausübt. Die erste bekannt gewordene Funktion betrifft den Schutz von Gehirn und Nervensystem. Inzwischen sind weitere zentrale Funktionen entdeckt worden.

Das Wichtigste verständlich

Neuritin vermittelt eine Reihe zentraler Funktionen im Körper.
  • Es schütz das Gehirn und das Nervensystem, indem es die Aussprossung von Neuriten (Verbindung zwischen den Gehirn- und Nervenzellen) und die Bildung von Synapsen (Kontaktstellen zwischen Nervenzellen untereinander und zu Organen) vermittelt und die Plastizität von Synapsen (Verformbarkeit: Voraussetzung, dass die Informationsübertragung zwischen den Zellen funktioniert) fördert. Neuritin spielt eine bedeutende Rolle bei der Neuroprotektion (Schutz des Gehirns und Nervensystems). Damit wirkt es einem kognitiven Abbau, also einer Demenz, entgegen, wie er beispielsweise in besonderem Maß bei einer länger dauernden Zuckerkrankheit (Diabetes) droht.
  • Es fördert die Aussprossung kleiner Blutgefäße im Gehirn und in einigen Tumoren (Angiogenese). Für das Gehirn kann das günstig sein, beispielsweise nach einer Hirnverletzung. Wenn ein Tumor vorliegt, kann Neuritin wegen der Förderung seiner Blutversorgung seine Ausbreitung fördern.
  • Es wirkt im Immunsystem als regulierender Vermittler (Mediator). Die regulatorischen T-Zellen (Tregs) können Neuritin produzieren und verhindern so eine Überreaktion einer Immunantwort und die Entwicklung von Autoimmunkrankheiten und Allergien.

Allgemeines

Neuritin wurde zunächst im Gehirn, dann aber auch in vielen Geweben und Organen des Körpers nachgewiesen, besonders hoch in Plazenta, Lunge, Skelettmuskulatur, Thymus, Pankreas, Leber und Herzgewebe. Niedrige bis geringe Spiegel fanden sich in Dünndarm, Eierstock, Milz und Hoden. Nicht nachweisbar war es in Nieren, Dickdarm, Prostata oder Leukozyten.

Bei Krebs wirkt Neuritin 1 als gefäßbildender Faktor, der durch Hypoxie (Sauerstoffmangel) induzierbar ist. 1

Bisher ist nicht bekannt, über welche Rezeptoren Neuritin wirkt. Kandidaten sind der Insulinrezeptor und der follikuläre Wachstumsfaktor-Rezeptor 2

Einfluss auf Gehirn und Nerven

Zuerst wurde Neuritin als Mediator im Gehirn identifiziert, welcher die Nervenzellen (Neurone) schützt (Neuroprotektion). Es ist an der Plastizität des Gehirns beteiligt. Die „Plastizität“ zeigt sich in der Funktions-, Anpassungs- und Regeneraionsfähigkeit des Organs. Daher wird es auch als „candidate plasticity gene 15“ (CPG15) bezeichnet. 3 Es fördert das Wachstum von Neuriten (Ausläufer der Neurone), deren Aufzweigung und die Bildung von Synapsen (Verbindungsstellen zwischen den Neuronen); und es hemmt die Selbstzerstörung durch Apoptose. 4

Neuritin existiert im Gehirn in zwei Isoformen: (a) eine membrangebundene Form: sie beeinflusst das Wachstum von Nervengewebe und die Bildung von Synapsen (Verbindung zwischen Neuronen) und (b) eine lösliche Form, die bei der Gehirnentwicklung eine Rolle spielt. 1

Die Bildung von Neuritin steht unter der Kontrolle von Androgenen. 5 Es ist bekannt, dass Androgene die Plastizität des Gehirns und die axonale Regeneration nach Nervenschädigung fördern; diese Eigenschaft wird durch Neuritin vermittelt bzw. gefördert; Androgene erhöhen die Bildung  seiner mRNA. 6

Neuritin kann die Blut-Hirn-Schranke schlecht überwinden, so dass es für eine Behandlung von Erkrankungen des Gehirns, wie beispielsweise eines Hirntraumas oder Schlaganfalls, nicht direkt in Frage kommt. 7 Eine therapeutische Option könnte jedoch ein Eingriff in die von ihm ausgehenden Signalwege sein, so in die Aktivität der Caspase-3, welche von Neuritin gehemmt wird. 8

Einfluss auf die Astrozyten: Neuritin stimuliert einen von einem Membranrezeptor (einer membrangebundenen Tyrosinkinase) ausgehenden Signalweg (JAK2/STAT3-Signalweg) in Astrozyten und hemmt so die Bildung einer Astrozytose (Vermehrung von Astrozyten, Glianarbe), wie sie bei einer diabetischen zerebralen Dysfunktion auftritt. 9

Durchblutungsstörungen des Gehirns: Neuritin fördert die Regeneration von Hirnsubstanz bei Versuchstieren nach einer experimentellen Schädigung durch vorübergehende Unterbrechung der Energieversorgung (Ischämie-Reperfusion). Es fördert damit die räumliche Lernfähigkeit. 10

Sehnerv: Neuritin beschleunigt die Heilung bei einer Opticusverletzung durch Schutz der retinalen Ganglionzellen und der Förderung der axonalen Regeneration 11

Demenz: Bei neurodegenerativen Krankheiten, wie der Alzheimer-Demenz, besteht ein Mangel an Neuritin im Gehirn. Es konnte gezeigt werden, dass seine Zufuhr die kognitiven Fähigkeiten experimentell dementer Mäusen verbessert. 12 Es konnte gezeigt werden, dass seine verminderte Bildung auf die Wirkung von mikroRNAs (miRNA, miR) beruht. Speziell miR-199a unterdrückt seine Expression. Diese miRNA ist bei Alzheimer-Demenz hochreguliert. 13

Neuroregeneration: In Versuchstieren konnte gezeigt werden, dass Neuritin nach Zelluntergang durch eine experimentelle Ischämie (Sauerstoffmangel) über eine Förderung der Regeneration des Hirngewebes die Lernfähigkeit verbessert. Der Abfall eines DNA-Repairfaktors wurde aufgehalten, insbesondere im für das Gedächtnis zentralen Hippocampus. Das wird als mögliche therapeutische Option angesehen. Da es für eine Behandlung ein therapeutisches Fenser von 3-7 Tagen nach einer Durchblutungsstörung gibt, kommt der Entwicklung einer solchen Option eine hohe praktische Bedeutung zu. 7

Depression: Neuritin wirkt tierexperimentell antidepressiv. Grundlage hierfür ist eine positive Beeinflussung der bei Nervenkrankheiten, die mit Depressionen einhergehen, verminderten Dendritenaufzweigung und Plastizität der Neurone des Hippocampus (siehe „Das Gehirn„). Es verbessert die Neuroplastizität und wirkt sich antidepressiv und positiv bezüglich der Stresstoleranz aus. 14 Da es in einigen Hirntumoren, wie in Astrozytomen, überexprimiert wird, steht in Frage, ob eine gegen Depression und Stressintoleranz gerichtete Therapie mit Neuritin oder synthetischen Derivaten nicht gleich auch das Risiko eines Hirntumors erhöhen würde.

Diabetische kognitive Dysfunktion: Bei Diabetes mellitus besteht ein erhöhtes Risiko für ein Nachlassen der kognitiven Funktionen, verbunden mit einer Downregulation der Neuritin-Expression. In Versuchstieren wurde im Kortex (Hirnrinde) und Hippocampus (ein Kerngebiet des Gehirns, das mit Gedächtnisleistungen befasst ist), eine experimentelle Überexpression von Neuritin untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass sie einem Abfall der kognitiven Funktionen entgegenwirkt und den kognitiven Abfall aufhielt. Bewirkt wird dies offenbar über eine Regulation des JAK2/STAT3-Signalwegs (Signalweg, der von einem speziellen Membranrezeptor ausgeht). Dieser positive Effekt tritt nicht mehr ein, wenn in Astrozyten der JAK2/STAT3-Signalweg gehemmt wird, der durch schädigende Substanzen (z. B. Lipopolysaccharide) ansonsten aktiviert würde. Damit wurde auch gezeigt, dass Astrozyten wesentlich an der Hirnleistung beteiligt sind.  9

Diabetische Hirn- und Nervenschädigung: Neuritin ist bei diabetischer Enzephalopathie und Neuropathie herunterreguliert. Sine vermehrte Bildung vermittelt bei Versuchstieren mit experimenteller diabetischer Neuropathie eine axonale Regeneration und damit eine Verbesserung der Symptomatik 15 Es verhindert eine Wucherung von Astrozyten (Astrozytose) und verbessert die kognitive Leistung. 16

Diabetische Neuropathie: Zentrale Ursache für die Neuropathie bei Diabetes mellitus ist eine zunehmende Demyelinisierung der peripheren Nerven. Die Myelinscheiden der Nervenfasern (Axone der Nervenzellen) werden von den Schwann’schen Zellen gebildet. Daher wird angenommen, dass eine Mangelfunktion dieser Zellen an der Neuropathie essenziell beteiligt ist. Sie wird durch einen Mangel an neurotropen Faktoren, welche die Nervenleitungsfunktion schützen und Aufrecht erhalten, hervorgerufen. In Tierversuchen wurde nachgewiesen, dass experimenteller Diabetes zu einer Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit und zu einem Abfall des Neuritinspiegels im Blut führt. Eine Neuritinzufur verbessert die Nervenfunktion wieder. An Kulturen mit Schwannschen Zellen, die für eine Ummantelung der periheren Nerven mit Nervenscheiden verantwortlich sind, wurde festgestellt, dass ihre Neuritinexpression (mRNA) vermindert ist und dass eine Zufuhr von Neuritin die Funktionsfähigkeit dieser Zellen wieder verbessert. Neuritin wird daher als positiver neurotroper Faktor angesehen. 17

Bedeutung bei Krebs

Die Expression von Neuritin wurde in Tumoren verändert gefunden. Eine Downregulation fand sich beispielsweise in Tumoren der Harnblase, des Uterus, des Ovars, des Dickdarms, der Niere und der Lunge. Hochreguliert wurde es gefunden im diffusen großzelligen B-Zell-Lymphom (DLBC). 18

Neuritin wirkt in manchen Geweben und Tumoren als angiogenetischer Faktor.  19 18 Tumore, die es überexprimieren, bewirken eine Gefäßneubildung (Angiogenese) und damit eine besseren Blutversorgung des Tumors, die wiederum sein Wachstum fördert. Auch wirkt es in einigen Tumoren einer Selbstzerstörung durch Apoptose entgegen und fördert den Zellzyklus. Auch kann es über Wachstumsfaktoren, wie VEC und VEGFR, zum Krebswachstum anregen. Beispiele für eine krebsfördernde Funktion sind der Magenkrebs, in dem eine Überexpression gefunden wurde 20, das nichtkleinzellige Lungenkarzinom 21 und das Melanom 22.

Neuritin wird in Astrozytomen überexprimiert, wobei die Höhe der Expression mit der Malignität korreliert; es kann zur Malignität von Hirntumoren beitragen. 23 Eine Hemmung seines Wirkmechanismus wird als mögliches Ziel der Behandlung von Hirntumoren angesehen. 19 Allerdings ist das Protein nicht liquorgängig, so dass ein Eingriff in die von Neuritin ausgehenden Signalwege aussichtsreicher erscheint. 7

Neuritin als Checkpoint-Mediator des Immunsystems

Neuritin schützt, wie gezeigt wurde, auch das Immunsystem vor Überaktivität. Es unterdrückt die übermäßige Bildung von Antikörper produzierenden Zellen, indem es die Umwandlung von B-Lymphozyten in Plasmazellen hemmt. Die das Immunsystem kontrollierende Funktion nehmen, wie länger bekannt, die „regulatorischen T-Zellen“ (Tregs) in den Lymphfollikeln wahr. Jetzt wurde nachgewiesen, dass sie diese Funktion über die Produktion von Neuritin vermitteln. Sie vermögen Neuritin sehr effektiv zu produzieren. Mit Hilfe dieses Mediators kontrollieren sie die richtige Stärke der Immunantwort und verhindern so eine übermäßige Aktivität mit Risiko der Entwicklung einer Autoimmunkrankheit und von Allergien. Damit eröffnen sich möglicherweise neue Möglichkeiten einer Therapie dieser Krankheiten. 24


→ Auf facebook informieren wir Sie über Neues und Interessantes!
→ Verwalten Sie Ihre Laborwerte mit der Labor-App Blutwerte PRO – mit Lexikonfunktion.


Verweise

Referenzen

  1. Clin Transl Immunology. 2021 May 17;10(5):e1290. DOI: 10.1002/cti2.1290 . PMID: 34026116; PMCID: PMC8126984.[][]
  2. Clin Transl Immunology. 2021 May 17;10(5):e1290. DOI: 10.1002/cti2.1290 . PMID: 34026116; PMCID: PMC8126984.[]
  3. Nature. 1993 Jun 24;363(6431):718-22. doi: 10.1038/363718a0. PMID: 8515813.[]
  4. Aging (Albany NY.) 2021 Jan 31; 13(2): 2681–2699. Published online 2020 Dec 15. doi: 10.18632/aging.202318[]
  5. J Neurochem. 2005;92:10–20[]
  6. J Neurotrauma. 2008 May;25(5):561-6[]
  7. Aging (Albany NY). 2021 Jan 31; 13(2): 2681–2699. Published online 2020 Dec 15. doi: 10.18632/aging.202318[][][]
  8. Int J Neurosci . 2018 Sep;128(9):811-820. DOI: 10.1080/00207454.2018.1424155 . []
  9. J Mol Endocrinol. 2021 May 1; 66(4): 259–272. Published online 2021 Mar 16. doi: 10.1530/JME-20-0321[][]
  10. Aging (Albany NY). 2020 Dec 15;13(2):2681-2699. doi: 10.18632/aging.202318. Epub 2020 Dec 15. PMID: 33323541; PMCID: PMC7880330.[]
  11. J Mol Neurosci. 2021 Jan;71(1):66-79. doi: 10.1007/s12031-020-01627-3. Epub 2020 Jun 30. PMID: 32607759.[]
  12. Cell Death Dis. 2014 Nov 13;5(11):e1523. doi: 10.1038/cddis.2014.478. PMID: 25393479; PMCID: PMC4260736.[]
  13. Int J Mol Med. 2020 Jul; 46(1): 384–396. Published online 2020 May 12. doi: 10.3892/ijmm.2020.4602[]
  14. Proc Natl Acad Sci U S A. 2012 Jul 10;109(28):11378-83[]
  15. Diabetes. 2008;57:181–189[]
  16. J Mol Endocrinol. 2021 Apr;66(4):259-272. doi: 10.1530/JME-20-0321. PMID: 33729996; PMCID: PMC8111324.[]
  17. J Cell Mol Med. 2020 Sep; 24(17): 10166–10176. Published online 2020 Jul 15. doi: 10.1111/jcmm.15627[]
  18. Int J Clin Exp Pathol. 2018; 11(4): 1956–1964. Published online 2018 Apr 1. PMCID: PMC6958223 PMID: 31938301[][]
  19. Biochem Biophys Res Commun. 2011 Dec 2;415(4):608-12[][]
  20. Oncol Lett. 2015 Dec; 10(6): 3832–3836. Published online 2015 Oct 12. doi: 10.3892/ol.2015.3793[]
  21. Onco Targets Ther. 2019; 12: 9747–9755. Published online 2019 Nov 20. doi: 10.2147/OTT.S212771[]
  22. Oncotarget. 2017 Jan 3;8(1):1117-1131. DOI: 10.18632/oncotarget.13585. PMID: 27901477; PMCID: PMC5352040.[]
  23. Med Oncol. 2011 Sep;28(3):907-12[]
  24. Cell . 2021 Apr 1;184(7):1775-1789.e19. DOI: 10.1016/j.cell.2021.02.027 . Epub 2021 Mar 11.[]