Ursache und Entstehung des Reizdarmsyndroms sind weitgehend geklärt. Es wird davon ausgegangen, dass eine genetische Veranlagung vorliegt und ein Auslöser (z. B. ein Darminfekt, s. u.) zur Symptomatik führt.
Ein zentraler Mechanismus ist nach heutiger Auffassung eine krankhaft veränderte Reagibilität auf die Darmflora zu sein 1, die mit einer Undichtigkeit der Schleimhaut assoziiert ist. Die beobachtbaren Veränderungen und Folgen erstrecken sich auf den Darm selbst und auf das Gehirn.
Folgende Erkenntnisse nehmen eine Schlüsselstellung im Gesamtbild ein 2:
Familiäre Belastung, Genetik: Es gibt Hinweise auf eine genetische Prädisposition; eine familiäre Häufung ist bekannt. 3 Es gibt inzwischen mehrere Gen-Kandidaten; darunter ist eine Assoziation mit einem Polymorphismus des Serotonin-Transporter-Gens festgestellt worden 4. In einer genomweiten Studie wurde ein Genort (9q31.2 auf Chromosom 9) gefunden, der speziell bei Frauen mit dem Reizdarmsyndrom assoziiert ist. 5
Barrierefunktion der Darmschleimhaut: Ein Defekt der Schleimhautbarriere wird als einer der wesentlichen Auslöser für das Reizdarmsyndrom angesehen. Bestimmte Bakterien können die Barrierefunktion offenbar besonders schädigen, andere, wie Lactobacillus rhamnosus GG, wiederherstellen. 6
Darmflora: Die Zusammensetzung der Bakterienstämme im Darm (Darmmikrobiom) von Patienten mit Reizdarm ist gegenüber Normalpersonen verändert: es wird eine signifikant erhöhte Zahl von Veillonella und Lactobacillus gefunden. Der Stuhl enthält laut einer Untersuchung zudem signifikant höhere Konzentrationen von Essigsäure und Propionsäure. 7 Da aber das Mikrobiom stark abhängig ist von der Art der Ernährung und entsprechend nicht einheitlich als gesund oder normal eingeordnet werden kann, so bleiben heute eher folgende Aussagen als zutreffend übrig:
- „Gesundes Mikrobiom“ ist gekennzeichnet durch eine hohe Diversität (Vielfalt) und eine ausreichende Menge an Butyrat-produzierenden Bakterien. Es zeigt eine Widerstandsfähigkeit gegen Störung und die Fähigkeit, nach einer Störung zu seiner ursprünglichen Zusammensetzung zurückzukehren.
- Beim Reizdarmsyndrom dagegen ist die Diversität des Mikrobioms eingeschränkt und die Balance zwischen Mikrobiom und Wirt gestört. 8 Es wird daher auch als eine Krankheit des Darmmikrobioms angesehen. 9
Entsprechend wird eine Stuhltransplantation (mit „gesundem Mikrobiom“) bzw. die Zufuhr geeigneter Bakterienspezies als eine potenzielle Therapieoption betrachtet. 10
Einfluss von Gallensäuren
Die in der Leber gebildeten primären Gallensäuren werden durch einige Bakterien (vor allem bestimmte Clostridien) in sekundäre Gallensäuren umgewandelt. Diese wirken je nach ihrer Struktur günstig oder ungünstig auf die Darmwand. Sie beeinflussen sowohl die Motilität, als auch die Schleimsekretion und zudem die Dichtigkeit des Epithels.
Bei Reizdarm mit überwiegendem Durchfall wurde ein signifikanter Anstieg der primären Gallensäuren im Stuhl und ein Rückgang des sekundären Gallensäuren gefunden. Entsprechend wurden solche Bakterienstämme im Darm vermindert gefunden, die primäre Gallensäure zu sekundären umwandeln. 11
Gallensäuren im Stuhl können als diagnostische Marker dienen. Bei IBS-D waren Chenodesoxycholsäure (CDCA), Cholsäure (CA) und primäre Gallensäuren signifikant höher als bei Gesunden oder IBS-C. Dagegen war Desoxycholsäure (DCA) bei IBS-C signifikant niedriger als bei IBS-D. 12 Aufgrund der Gallensäurezusammensetzung des Stuhls kann ein jeweils individuelles Therapiekonzept aufgestellt werden. 13
Bakterien und Antibiotika
Als Reizdarm-Auslöser kommen Bakterien und auch Antibiotika in Betracht: 14
- Eine vorangegangene Antibiotikatherapie stellt ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Reizdamsyndroms dar. Es ist anzunehmen, dass sie zu einer Alteration der Kolonflora (Dysbiose) führt.
- Eine akute Gastroenteritis (infektiöse Durchfallkrankheit) bildet ein erhöhtes Risiko. 15 16
- Eine Infektion mit Mycobacterium avium subsp. paratuberculosis (oft durch Verzehr von handgemachtem Käse erworben) wird als mögliche Ursache eines Reizdarmsyndroms (wie auch des Morbus Crohn) diskutiert. 17
Antibiotika können die Zusammensetzung des Darmmikrobioms verschieben, so dass Keime aufkommen, die den Mix der Gallensäuren im Darm und damit die von ihnen abhängigen Eigenschaften des Darms und des Stoffwechsels (siehe hier) ungünstig beeinflussen.
Weitere Einflussfaktoren
Emotionaler Stress: Stress und neurotische Fehlhaltung sind als Reizdarm-Auslöser möglich; psychologische Faktoren tragen offenbar zu einer veränderten Schmerzwahrnehmung bei 18, liegen aber nicht bei jedem Patienten vor. Heute wird die wechselseitige Beeinflussung von Gehirn und Darm (brain-gut axis) als gegeben angesehen.
Die Psyche scheint über diesen Weg vielfachen Einfluss auf Auslösung und Verlauf des Reizdarmsyndroms zu nehmen. Diskutiert wird, dass im Einzelfall traumatische Ereignisse und familiäre Belastungssituationen in der Kindheit, neurotische Entwicklung und Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit eine Rolle spielen können. 19
Ursache kann sein, dass bei emotionalem Stress in bestimmten Regionen des Gehirns durch Fehlregulation ein Tryptophan- und Serotonin-Mangel (Serotonin: 5-Hydroxytryptamin; 5-HT) eintritt, der sich auch in einem erhöhten Schmerzempfinden und vermehrter Darmmotilität inklusive gesteigertem Stuhldrang auswirkt. 20 21
Rolle von Serotonin: Darmmikrobiota beeinflussen über Mastzellen (sie entlassen Prostaglandin E2, PGE2) die Expression des mukosalen Serotonin-Wiederaufnahmetransporters beim Reizdarmsyndrom. Bei Patienten mit Reizdarmsyndrom veranlasst fäkales Lipopolisaccharid zusammen mit Trypsin die Mastzellen der Schleimhaut, Prostaglandin E2 (PGE2) freizusetzen. Dadurch wird der Schleimhaut-SERT (Serotonin-Wiederaufnahmetransporter) herunterreguliert, was zu einem erhöhten 5-Hydroxytryptamin (5-HT) in der Schleimhaut führt. 22 Interessant in diesem Zusammenhang ist es, dass ein genetischer Polymorphismus des Serotonin-Transportergens mit einem Reizdarmsyndrom assoziiert ist (s. o.).
Veränderte rektale Empfindlichkeit: Sie spielt bei vorherrschender Verstopfung (Obstipation) eine Rolle.
Hormonelle Beeinflussung: Eine prämenstruelle Verschlechterung deutet auf eine hormonelle Beeinflussung.
Laktoseintoleranz: Eine Laktoseintoleranz stellt keine Reizdarm-Ursache dar; sie sollte ausgeschlossen sein. Allerdings kann sie zu einer erheblichen Verschlechterung der Symptomatik bei Reizdarm führen.
Interkurrenter Darminfekt: Jeder Darminfekt und jede Darmentzündung geht mit einer Beeinflussung des Darmmikrobioms einher und kann bei einer entsprechenden Veranlagung ein Reizdarmsyndrom auslösen. So kann eine Salmonellenenteritis im Kindesalter ein Risikofaktor für das Reizdarmsyndrom im Erwachsenenalter darstellen. 23 Eine Untersuchung zeigt, dass das Risiko eines Reizdarmsyndroms 4,2-fach erhöht ist, wenn innerhalb der letzten 12 Monate eine bakterielle Enteritis durchgemacht wurde. Ein Darmbefall mit Protozoen oder Parasiten führte besonders oft zu einem Reizdarmsyndrom. 24
Interferon-Gamma: Die IFN-γ-mRNA-Spiegel in der Darmschleimhaut von PI-IBS-Patienten (PI: post infectionem) waren in einer Untersuchung signifikant höher als in der von Nicht-PI-IBSPatienten. 25 Das IFN-γ-Gen und die IFN-γ-Proteinexpression sind in der Dickdarmschleimhaut von Patienten mit Reizdarmsyndrom erhöht. IFN-γ reguliert die SERT-Genexpression (Serotonin-Wiederaufnahmetransporter) in vitro herunter und spielt daher wahrscheinlich eine Rolle beim veränderten Serotoninstoffwechsel in der Schleimhaut von Reizdarmpatienten. 26
→ Auf facebook informieren wir Sie über Neues und Interessantes!
→ Verwalten Sie Ihre Laborwerte mit der Labor-App Blutwerte PRO – mit Lexikonfunktion.
Verweise
- Reizdarm
- Die Verdauung und ihre Regulation: Basics
- Funktionelle Dyspepsie
- Blähungen
- Laktoseintoleranz
- Nahrungsmittelunverträglichkeit
- Nahrungsmittelallergie
- Magendarmkanal
Weiteres
- J Neurogastroenterol Motil. 2012 Jul;18(3):258-68[↩]
- World J Gastroenterol. 2023 Jul 14;29(26):4120-4135.[↩]
- Am J Gastroenterol. 1998 Aug; 93(8):1311-7[↩]
- Gut Liver. 2012 Apr;6(2):223-8[↩]
- Gastroenetrology July 2018 Volume 155, Issue 1, Pages 168–179[↩]
- Gut Microbes. 2018 Jul 24:1-18. doi: 10.1080/19490976.2018.1479625[↩]
- Neurogastroenterol Motil. 2010 May;22(5):493-8[↩]
- Nat Rev Microbiol. 2017 Oct;15(10):630-638. DOI: 10.1038/nrmicro.2017.58[↩]
- Front Cell Infect Microbiol. 2020;10:468. doi: 10.3389/fcimb.2020.00468.ecb0df1563e644f38b00623cc929c196[↩]
- Scand J Gastroenterol. 2021 Jul;56(7):761-769. DOI: 10.1080/00365521.2021.1915375.[↩]
- J Neurogastroenterol Motil. 2022 Oct 30;28(4):549-561. DOI: 10.5056/jnm22129[↩]
- Aliment Pharmacol Ther. 2019 Mar;49(6):744-758.[↩]
- Gut. 2023 Mar;72(3):590-599. doi: 10.1136/gutjnl-2022-328515[↩]
- World J Gastroenterol. 2022 Mar 28;28(12):1204-1219. doi: 10.3748/wjg.v28.i12.1204[↩]
- BMJ. 1999 Feb 27;318(7183):565-6. doi: 10.1136/bmj.318.7183.565. PMID: 10037630; PMCID: PMC27756.[↩]
- Exp Ther Med. 2020 Oct;20(4):3517-3522. doi: 10.3892/etm.2020.9018. Epub 2020 Jul 16. PMID: 32905134; PMCID: PMC7464999.[↩]
- J Clin Microbiol. 2007 Dec;45(12):3883-90[↩]
- Scand J Gastroenterol. 2007 Apr;42(4):441-6[↩]
- World J Gastroenterol. 2012 Feb 21;18(7):616-26[↩]
- Eur J Gastroenterol Hepatol. 2012 Nov;24(11):1259-65[↩]
- Gut. 2011 Sep;60(9):1196-203.[↩]
- Gastroenterology. 2022 Jun;162(7):1962-1974.e6. DOI: 10.1053/j.gastro.2022.02.016[↩]
- Gastroenterology. 2014 Jul;147(1):69-77. DOI: 10.1053/j.gastro.2014.03.013[↩]
- Gastroenterology. 2017 Apr;152(5):1042-1054.e1. DOI: 10.1053/j.gastro.2016.12.039.[↩]
- BMC Gastroenterol. 2012 Jul 20;12:91. doi: 10.1186/1471-230X-12-91[↩]
- Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol. 2016 Mar 15;310(6):G439-47. doi: 10.1152/ajpgi.00368.2015[↩]