Die akute lymphozytische Leukämie (früher akute lymphatische Leukämie, ALL, engl.: acute lymphoblastic leukemia) ist mit 25 % die häufigste maligne Krankheit bei Kindern und Jugendlichen; sie hat eine 5-Jahres-Überlebensrate von 90 %. Sie kommt auch bei Erwachsenen vor, ist aber bei ihnen mit 0,2 % der Malignome sehr selten; sie hat eine 5-Jahres-Überlebensrate von 20 – 40 %. (1)Drug Des Devel Ther. 2018 Nov 12;12:3885-3898. doi: 10.2147/DDDT.S138765. PMID: 30518999; PMCID: … Continue reading
Inhaltsverzeichnis
Entstehung
Die ALL entsteht aus einer malignen Transformation einer unreifen Vorstufe von Lymphozyten bzw. einer Lymphozyten-Stammzelle. Der aus der unregulierten Vermehrung hervorgehende Zellklon besiedelt das Knochenmark und verdrängen dort das gesunde blutbildende Gewebe. Es kommt zu einer Anämie, Granulozytopenie und Thrombozytopenie. Sie besiedeln ebenso verschiedene Organe wie Leber, Milz, Nieren, Gonaden und das Gehirn mit seinen Hirnhäuten.
Symptomatik
Führend bei der ALL sind unspezifische Symptome wie Abgeschlagenheit, Leistungsabfall, Tachykardie, Infektionsneigung, Fieber und eine Blutungsneigung (Nasenbluten, Zahnfleischbluten, oft aber nur erkennbar an kleinsten Blutpünktchen auf der Haut (petechiale Blutungen). Lymphknotenvergrößerungen sind häufig.
Bei Kindern kann es zu sehr schmerzhaften Knochen- und Gelenkschmerzen kommen, die auf eine Periostinfiltration und Blutungen in diesem Bereich hindeuten.
Eine Beteiligung des zentralen Nervensystems durch die ALL ist nicht selten. Sie macht sich durch Kopfschmerzen, Krampfanfälle, Brechreiz bemerkbar; der Augenhintergrund kann dann eine Stauungspapille erkennen lassen.
Diagnostik
Im Differenzialblutbild und im Knochenmark (Knochenmarkpunktion!) finden sich Lymphoblasten stark vermehrt. Die Zellen werden nach Oberflächenmarkern differenziert. Es wird auf das Vorliegen eines Philadelphia-Chromosoms untersucht, welches eine schlechtere Prognose bedingt.
Prognose und weitere Entwicklungen
Bei rechtzeitiger Diagnose ist die ALL bei Kindern heute heilbar. Günstig für die Prognose ist ein Alter zwischen 3 und 7 Jahren. Ein ZNS-Befall verschlechtert die Prognose. Eine erste Remission wird in ca. 95% der Fälle erreicht. Etwa 75% der Kinder haben nach 5 Jahren ein krankheitsfreies Überleben. (2)Pediatr Clin North Am. 2015 Feb;62(1):61-73. doi: 10.1016/j.pcl.2014.09.006. Epub 2014 Oct 18. … Continue reading (3)Leukemia. 2010 Feb;24(2):285-97. doi: 10.1038/leu.2009.262. Epub 2009 Dec 17. PMID: 20016531; … Continue reading
Die Philadelphia-positive ALL (Ph+ALL) ist eine Untergruppe der ALL mit besonders schlechter Prognose. Ältere Menschen mit einer Philadelphia-positiven ALL (Ph+ALL) haben eine 5-Jahresüberlebensrate von etwa 30%. Die Rate kompletter Remissionen ist gering und die Remission dauert oft nur kurz. Die Mortalität ist hoch. (4)Rom J Intern Med. 2015 Jan-Mar;53(1):31-6. doi: 10.1515/rjim-2015-0004. PMID: 26076558. Auch Kinder mit Ph+ALL haben eine schlechtere Prognose; nach Stammzelltransplantation überleben sie 5 Jahre zu 75%. (5)Blood Res. 2019 Mar;54(1):45-51. doi: 10.5045/br.2019.54.1.45. Epub 2019 Mar 21. PMID: 30956963; … Continue reading
Eine Prognoseverbesserung ist durch neue Therapien erwartbar (s.u.).
Therapie
Die Einleitung einer Behandlung (Induktionstherapie) beinhaltet herkömmlich meist Prednisolon, Vincristin und Asparaginase oder ein Anthracyclin. Asparaginase ist selbst kein Chemotherapeutikum: sie vermindert die Asparagin-Konzentration, so dass die Blasten der ALL, die selbst keine Asparaginsäure bilden können, an ihrer Lebensgrundlage verarmen. Die Standardtherapie der Ph+ALL beinhaltet neben der Chemotherapie den Tyrosinkinase-Hemmer Imatinib. Dies führt zu einer höheren kompletten Remissionsrate als die herkömmliche Chemotherapie und ist weniger toxisch. (6)Cancer. 2007 May 15;109(10):2068-76 In ca. 2/3 der Fälle kommt es zunächst zu sehr gutem Ansprechen, jedoch muss ebenfalls mit Rezidiven gerechnet werden. Grund sind Mutationen des Fusiogens BCR-ABL. Mit Dasatinib oder Nilotinib kann neuerlich eine komplette Remission erzielt werden. (7)Expert Opin Emerg Drugs. 2007 Mar;12(1):165-79 Wegen der relativ häufigen Infiltration der Hirnhäute (Meningen) mit Tumorzellen, wird meist eine intrathekale Applikation von Glukokortikoiden und Chemotherapeutika (z. B. Methotrexat, Cytarabin) vorgenommen.
Kinder mit Philadelphia-positiver ALL (Ph+ALL), die in einer Verlaufsstudie mit einer Chemotherapie und Imatinib vorbehandelt wurden waren und eine hämatopoetische Stammzelltransplantation (mit Ganzkörperbestrahlung) erhalten hatten, überlebten 5 Jahre zu 64,5% ohne neuerliche Symptomatik; das Gesamtüberleben lag bei 75%. (8)Blood Res. 2019 Mar;54(1):45-51. DOI: 10.5045/br.2019.54.1.45. Epub 2019 Mar 21. PMID: 30956963; … Continue reading
Präzisionsmedizin
Neue monoklonale Antikörper (MoAbs) richten sich gegen die Oberflächenantigene auf den Lymphoblasten. Zu ihnen gehören vor allem CD19, CD20, CD22 and CD52. Eine zur Chemotherapie zusätzliche Therapie mit Rituximab (anti-CD20 MoAb, wirksam in Philadelphia-Chromosom-negativer akuter Prä-B-Zell-Leukämie, BCP-ALL), Alemtuzumab oder Epratzumab erbrachte jeweils in Studien Erfolge sowohl bei neu diagnostizierter ALL des Erwachsenen als auch bei ALL-Relapsen. (9)Leuk Lymphoma. 2014 Apr;55(4):737-48. doi: 10.3109/10428194.2013.823493. (10)Leuk Res. 2016 Oct;49:13-21. doi: 10.1016/j.leukres.2016.07.009.
Inotuzumab-Ozogamicin: Dies ist ein monoclonaler Anti-CD22 Antikörper, dem eine erstaunliche Wirksamkeit bei einer therapierefraktären “B‐cell precursor (BCP)-ALL” bescheinigt wird. CD22 ist ein Zelloberflächenantigen, welches praktisch bei allen Patienten mit B-Zell-ALL von über 90% der B-Zell-Blasten exprimiert wird. Der Antikörper erreicht in etwa 70-80% eine komplette Remission bei refraktärer ALL. Allerdings ist das Risiko von thromboembolischen Komplikationen, so auch einer Sinusvenenthrombose erhöht. Die Behandlung wird als Brückentherapie zu einer angestrebten hämatologischen Stammzelltransplantation angesehen. (11)Cancer. 2019 Jul 15;125(14):2474-2487. DOI: 10.1002/cncr.32116. Epub 2019 Mar 28. PMID: 30920645; … Continue reading
Blinatumumab: Dies ist ein bispezifischer Antikörper, der sowohl gegen CD19-B-Zellen als auch gegen CD3-T-Zellen gerichtet ist. Er ermöglicht die immunologische Erkennung der Tumorzellen durch T-Lymphozyten. (12)Ann Pharmacother. 2015 Sep;49(9):1057-67. doi: 10.1177/1060028015588555. Epub 2015 Jun 3. Erratum … Continue reading In einer Studie an Patienten mit vortherapierter Prä-B-Zell-Leukämie führte er zu einem signifikant besseren Erfolg als herkömmliche Chemotherapie: das mittlere Überleben lag bei 7,7 Monaten vs. 4,0 Monaten in der Chemotherapiegruppe. (13)N Engl J Med. 2017 Mar 2;376(9):836-847. doi: 10.1056/NEJMoa1609783.
Der Zusatz des Antikörpers Blinatumumab zum Interfant-6-Protokoll (14)J Clin Oncol. 2019 Sep 1;37(25):2246-2256. DOI: 10.1200/JCO.19.00261 bei Kindern unter 1 J. erhöhte ihr Gesamtüberleben (nach durchschnittlich 26,3 Monate 92,3% vs. 65,8%; krankheitsfreies Überleben 81,6% vs. 49,4%). (15)N Engl J Med. 2023 Apr 27;388(17):1572-1581. DOI: 10.1056/NEJMoa2214171
Venetoclax und Dinaciclib scheinen eine weitere effektive Option zur Prognoseverbesserung darstellen zu können. (16)Haematologica. 2023 Jan 26. DOI: 10.3324/haematol.2022.281443
CAR-T-Zell-Therapie: Tisagenlecleucel (CTL-019, Kymriah) ist ein Wirkstoff zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie (ALL). Die Bahendlung basiert auf CAR-T-Zellen, die zuerst hergestellt werden müssen. Normale T-Lymphozyten, die dem Patienten entnommen werden, erhalten über Tisagenlecleucel (ein Lentivirus, das als Vektor dient) die genetische Information des Oberflächenrezeptors von CD19 übertragen bekommen haben, welcher die ALL-Tumorzellen erkennt. CD19 ist, wie auch CD20 oder CD22, ein Oberflächenmarker von ALL-Zellen. Die so hergestellten CAR-T-Zellen können damit also die C19 tragenden Tumorzellen erkennen, an sie binden und sie zerstören. Eine einzelne Infusion dieser CAR-T-Lymphozyten führte in einer Studie zu einer lang anhaltenden Remission. Die Remissionsrate lag nach 3 Monaten bei 81%; nach 6 Monaten bei 73% und nach 12 Monaten bei 50%. Als schwerwiegende Nebenwirkung trat in über 70% ein „Zytokin-release-Syndrom“ (Hypotonie, Fieber, Atemnot, Erbrechen) auf, das in 48% der Fälle mit Tocilizumab (Antikörper gegen den Entzündungsmediator IL-6) behandelt wurde. (17)N Engl J Med. 2018 Feb 1;378(5):439-448. DOI: 10.1056/NEJMoa1709866. PMID: 29385370; PMCID: … Continue reading
Eine Option für eine Heilung ist die allogene hämatopoetische Stammzelltransplantation (HSCT). Dafür muss zunächst eine Remission erzielt werden. Eine Standard-Chemotherapie führt jedoch zu nur geringen Remissionsraten ( 30% bis 46%). Mit neuen Mitteln einer Präzisionsmedizin (z. B. Inotuzumab-Ozogamicin, InO) hat sich die Chance auf eine HSCT und damit auf eine erhebliche Steigerung der Gesamtprognose deutlich verbessert. (18)Cancer. 2019 Jul 15;125(14):2474-2487. DOI: 10.1002/cncr.32116. Epub 2019 Mar 28. PMID: 30920645; … Continue reading
Therapie der ALL bei Säuglingen
Die (KMT2A-umgeordnete) akute lymphoblastische Leukämie (ALL) bei Säuglingen ist eine aggressive Erkrankung mit einer ereignisfreien 3-Jahres-Überlebensrate von unter 40 %. In einer aktuellen Studie wurde Blinatumomab (Antikörper gegen das CD19-Antigen auf B-Lymphozyten) zur Chemotherapie bei lymphoblastischer Leukämie bei Säuglingen hinzugefügt. Das zweijährige krankheitsfreie Überleben betrug darunter in der Studie 81,6 % vs. 49,4 % in der Interfant-06-Studie. Das Gesamtüberleben lag bei 93,3 % vs. 65,8 %. Es traten keine besonderen toxischen Wirkungen auf. (19)N Engl J Med. 2023 Apr 27;388(17):1572-1581. DOI: 10.1056/NEJMoa2214171.
Komplikationsrisiko: Pilzinfektion
Die hocheffektiven Antikörpertherapien bergen alle das Risiko einer invasiven Pilzerkrankung in sich, so dass eine entsprechende Prophylaxe in die Therapiekonzepte einbezogen werden sollte. (20)J Fungi (Basel). 2021 Mar 5;7(3):186. DOI: 10.3390/jof7030186. PMID: 33807678; PMCID: PMC7999508.
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Verweise
Literatur