Die Myasthenia gravis ist eine neuromuskuläre Erkrankung, die durch eine erhebliche muskuläre Schwäche gekennzeichnet ist. Die myasthenische Krise ist wegen drohender Ateminsuffizienz lebensbedrohlich. Sie ist eine Autoimmunkrankheit, die häufig durch einem Tumor des Thymus (Thymom) ausgelöst wird.
Häufigkeit
Die Prävalenz (Häufigkeit) ist in den letzten Jahrzehnten angestiegen. Es ist mit etwa 20 Erkrankungen auf 100.000 Menschen zu rechnen. 1
Die Myasthenia gravis kommt besonders bei jüngeren Frauen und älteren Männern vor und kann in Schüben verlaufen. Etwa 75 % der Fälle sind mit einer Anomalie des Thymus assoziiert, in etwa 85 % von ihnen mit einer Thymushyperplasie, 15 % mit einem Thymom 2.
Seltene Formen der Myasthenie sind durch angeborene Stoffwechselstörungen (z. B. bei der Synthese oder dem Abbau von Acetylcholin) bedingt.
Ursache und Entstehung
Übertragung der Nervenimpulse auf die Muskulatur gestört
Ursächlich für die Myasthenia gravis sind im Blut zirkulierende Antikörper, die die Übertragung der Nervenerregung auf die Muskulatur verhindern. Automatische Atembewegungen und Willkürbewegungen sind betroffen.
Es sind Antikörper gegen den Rezeptor für Acetylcholin, den Überträgerstoff, der für die Muskelerregung durch die Nervenfasern verantwortlich ist, genauer: gegen den „postsynaptischen nicotinischen Rezeptor für Acetylcholin (AChR)“, der an der neuromuskulären Verbindung der motorischen Nerven zu der quergestreiften Muskulatur lokalisiert ist.
Die Produktion dieser Antikörper erfolgt durch Zellen des Immunsystems, den B-Lymphozyten / Plasmazellen, und hängt von der Anregung durch AChR-spezifische CD4+ T-Zellen ab. Bei dieser Krankheit wird häufig eine lymphatische Hyperplasie im Thymus, die auf eine Überaktivität dieser Zellen hinweist, gefunden.
Bedeutung von Mikro-RNA
Heute wird bestimmter Mikro-RNA eine pathogenetische Bedeutung beigemessen. Sie sind regulatorische kleine Moleküle, die bei Autoimmunkrankheiten eine veränderte Zusammensetzung aufweisen: in einer Untersuchung wurde beispielsweise der Spiegel einiger Spezies von ihnen bei Myasthenie-Patienten in geringerer Konzentration gefunden als bei Kontrollpersonen 3. Speziell miR-15b ist deutlich herunterreguliert, was die Expression von Interleukin 15 (einem Signalstoff des Immunsystems) beeinflusst 4. Auch mir-146a scheint von großer Bedeutung zu sein: Wird es experimentell stumm gemacht, so verbessert sich die Erkrankung 5.
miRNA scheinen ein aussichtsreiches neues therapeutisches Ziel für die Myasthenie werden zu können. 6. So scheinen Estradiol, Estramustin, Raloxifen und Tamoxifen das Potenzial zu haben, über eine Beeinflussung eines TF-miRNA-Gennetzwerks (TMGN) die Myasthenie behandeln zu können. 7
Klinisches Bild
Führende Symptome: Führend ist eine allgemeine, unter Belastung rasch zunehmende muskuläre Schwäche.

Die Ptose der Lider (hängende, verschlafen wirkende Augenlider) ist ein pathognomonisches (krankheitstypisches) Zeichen, das auffällt. In etwa 15% bleiben die Augensymptome lange Zeit die einzigen Auffälligkeiten. Etwa die Hälfte dieser Patienten verschlechtern sich innerhalb von 2 Jahren 8. Ansonsten finden sich häufig Verdauungsstörungen mit Darmträgheit und Verstopfung (Obstipation) und Schluckprobleme, die zu Verschlucken mit Aspiration führen können. Die Lebensqualität ist stark eingeschränkt und die Entwicklung einer reaktiven Depression häufig. 9
Verlauf
Die Erkrankung verläuft häufig schubartig. Erneute Schübe (Relapse) sind besonders dann zu erwarten, wenn auch andere Autoimmunkrankheiten auftreten; sie sind Prediktoren (Voraussager) für einen schwereren Verlauf 10.
Einteilung
- Klasse I: Symptome beschränkt auf äußere Augenmuskeln und Lidschluss (okuläre Form)
- Klasse II: Einbeziehung von weiteren Muskelgruppen, generalisierte leichte Form
- Klasse III: Mäßiggradige generalisierte Form
- Klasse IV: Schwere generalisierte Form
- Klasse V: Myasthenie-Krise mit Intubationsbedürftigkeit
Besondere Erscheinungsformen
Okuläre Myasthenie
Die rein okuläre Myasthenie (Augensymptome vorherrschend) ist eine Unterform, bei der Doppelbilder und Lidschwäche einzeln oder kombiniert auftreten. Bei ihr werden Anti-Acetylcolinrezeptor-Antikörper (AChR-Ab) deutlich seltener gefunden, in einer Zusammenstellung in 14,1%; dagegen waren abnormale Schilddrüsenantikörper in 27,5% nachweisbar 11. Eine Progression (Fortschreiten) der Erkrankung, indem im Körper weitere Muskelgruppen eingezogen werden, ist möglich und tritt laut Untersuchungen in etwa 37% innerhalb von 2 Jahren auf; eine Prednisolon-Therapie verminderte den Anteil auf 7% 12.
Myasthenische Krise
Krankheitsschübe können in eine Myasthenie-Krise führen. Sie ist gekennzeichnet durch zunehmende Atemnot, die zur künstlichen Beatmung führt. Auslöser können gesundheitliche Stresssituationen sein. Häufig sind es Infekte, Operationen, eine Schwangerschaft, aber auch Medikamente mit Einfluss auf die Muskelkraft oder eine Veränderung der immunsuppressiven Therapie. Die Letalität in der Krise lag früher bei über 70%, wurde aber durch die besseren Behandlungsoptionen (s. u.) auf etwa 5% gesenkt.
Juvenile Myasthenie
Eine Myasthenie bei Kindern ist selten. Sie präsentiert sich häufig als wechseln ausgeprägte, fluktuierende Muskelschwäche im Alter unter 18 13. Ein Thymom und andere begleitende Autoimmunkrankheiten fehlen häufiger. Auch ist eine Beschränkung auf Augensymptome häufiger; und der Verlauf wird als gutartiger als in späteren Lebensabschnitten eingeschätzt. In einer Zusammenstellung von Fällen (mittleres Alter 8 Jahre, Beobachtung über 6,2 Jahre) hatten 10 eine positive Familiengeschichte; bei keinem Kind war eine Autoimmunkrankheit assoziiert; ein Thymom wurde bei 11 operiert; 4 Kinder hatten eine Myasthenie-Krise erlitten. Am Ende der Nachbeobachtung waren 53 von 77 Patienten symptomfrei oder hatten sich gebessert; 9 blieben unverändert, 2 waren gestorben 13.
Diagnostik
Der Verdacht auf eine Myasthenie sollte bei jeder ungeklärten Muskelschwäche aufkommen. Typisch ist der häufig vorhandene „Schlafzimmerblick“, der durch die Schwäche der Lidheber (Ptose) zustande kommt. Wenn ein Cholinesterasehemmer (z. B. Tensilon) verabreicht wird, können die Lider wieder gehoben werden. Der Tensilon-Test (Edrophonium-Test) gilt als starker Hinweis auf eine Myasthenia gravis, aber auch beim Lambert-Eaton-Syndrom kann er positiv ausfallen.
Diagnostisch beweisend sind Anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörper (AchR-Antikörper, hohe Sensitivität bis zu 95%, Spezifität praktisch 100%). Beim rein okulären Typ (nur Augenlider betroffen) sind die Antikörper in unter 50% positiv.
Ursächlich sollte nach einem Thymom (Vergrößerung der „Thymusdrüse“) gefahndet werden, wozu eine Computertomographie des Thorax (Brustkorb) erforderlich ist.
Differenzialdiagnostisch sind andere Erkrankungen des Nervensystems und der Muskulatur abzugrenzen, wie eine amyotrophe Lateralsklerose oder eine Myositis.
Therapie
Die Behandlungsoptionen haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Neue Entwicklungen sind auf dem Weg, so eine Beeinflussung spezieller Mikro-RNA-Signalwege (s. o.). Das aktuelle Spektrum (2022) beinhaltet folgende Möglichkeiten einer Therapie: 14
- Cholinesterasehemmer führen zu einer raschen Besserung der Symptomatik, sind aber nur kurz wirksam (z. B. Edrophoniumchlorid (Tensilon), Pyridostigmin (Mestinon), Prostigmin, Neostigmin). Sie werden zur akuten Symptombesserung verwendet.
- Kortikosteroide (wie Prednisolon) und Azathioprin gelten als Mittel der ersten Wahl zur Immunsuppression. 15 Von Bedeutung ist, dass hohe Dosen von Prednisolon oder anderen Glukokortikoiden bei Behandlungsbeginn zu einer Verschlechterung führen können.
- Die Plasmapherese ist in der myasthenischen Krise eine wirksame Methode zur Entfernung von Autoantikörpern und zur Symptomverbesserung. 16 Hierbei wird Plasma von Blutzellen abgetrennt und gegen Albumin oder Spenderplasma ausgetauscht. Ein therapeutischer Plasmaaustausch ist bei akuter Verschlechterung der Symptomatik eine wirksame Methode, die zirkulierenden Antikörper zu reduzieren und die Symptomatik zu verbessern. Es kommt zu einer sofortigen Symptomverbesserung. 17 Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass es durch den Plasmaaustausch zu einem akuten Vitamin-D-Mangel kommt 18, der ausgeglichen werden muss.
- Hochdosierte Immunglobuline (IVIG, intravenös) scheinen die Symptomatik bei der myasthenischen Krise bessern zu können, wie Studien zeigen. 19 20 In einer Studienauswertung 2012 wird festgestellt, dass bei chronischer Myasthenie intravenöse Immunglobuline nicht eindeutig wirkungsvoll sind. 21
- Tacrolimus ist (wie Cyclosporin) in einigen therapierefraktären Fällen eine Therapieoption, meist zusammen mit Kortikosteroiden. 22 Es ist in geringen Dosen wirkungsvoller als Cyclosporin und hat weniger Nebenwirkungen (Nephrotoxizität). 23 Die Wirkung beruht auf einer Hemmung von Calcineurin und damit indirekt der Interleukin-2-Produktion und der T-Zell-Proliferation 24 25. Eine Zusammenstellung der bisherigen (kleinen, meist nicht randomisierten) Studien zeigt positive Effekte bezüglich Symptomatik und Reduktion der Kortikoid-Begleitmedikation auf. 26
- Eine Thymektomie ist bei jungen Menschen mit Myasthenia gravis auch zur Behandlung der Symptomatik erfolgversprechend. Die Überlebensprognose nach Thymom-Operation ist bei Patienten mit Myasthenia gravis besser als ohne Myasthenie. 27 Eine Studie zeigt auf, dass eine Thymektomie auch bei einer Myasthenia gravis, die nicht mit einem Thymusvergrößerung assoziiert ist, zusätzlich zu einer alternierenden Prednisolontherapie einen besseren Verlauf über den Beobachtungszeitraum von 3 Jahren nahm (bessere Score-Entwicklung) als die Prednisolontherapie alleine 28. In einer weiteren Studie wurde festgestellt, dass eine Thymektomie bei Patienten mit Klasse-1-Myasthenie zu einer rascheren Remission führt, als bei einer nichtchrirurgischen Therapie, und dass der Therapieerfolg größer ist, wenn die Operation innerhalb der ersten 6 Monate nach Beginn der Symptomatik erfolgt 29.
- Thymusbestrahlung: Bei älteren Patienten mit erhöhtem Operationsrisiko ist eine Thymusbestrahlung zu diskutieren.
- Mikro-RNA-Beeinflussung: Medikamente, die die Zusammensetzung des Mikro-RNA-Spektrums im Blut beeinflussen, sind ins Zentrum des Interessen gerückt (siehe oben unter „Ursache und Entstehung“) 6.
Vermeidung symptomverschlechternder Medikamente
Zur Behandlung gehört es, Medikamente zu vermeiden, die die Symptomatik der Myasthenie verschlechtern können. Dazu gehören z. B.
- Morphine,
- trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitryptilin),
- Psychopharmaka (z. B. Benzodiazepine, Promacin und Derivate),
- Beta-Blocker,
- Kalziumantagonisten,
- manche Antibiotika (wie z. B. Aminoglykoside, Makrolide, Gyrasehemmer, Tetrazycline).
Neue Option: Efgartigimod
Efgartigimod (EFG) ist ein Blocker eines Rezeptors für das Fc-Fragment von IgG (neonataler Fc-Rezeptor, FcRn). FcRn ist für die relativ lange Lebenszeit von IgG verantwortlich. (Er ermöglicht auch die Übertragung der mütterlichen Immunität auf das Kind; daher kommt das „neonatal“ im Begriff.)
In einer Zulassungsstudie für die Behandlung einer Myasthnia gravis wurde festgestellt, dass alle mit Efgartigimod behandelten Patienten eine rasche Abnahme von Gesamt-IgG und Anti-AChR-Autoantikörpern aufwiesen. Etwa 75 % zeigten eine rasche und lang anhaltende Besserung der Erkrankung. 30 In einer wurden Studie wurden Kopfschmerzen und Nasopharyngitis als häufigste Nebenwirkungen angegeben, die aber nicht häufiger als in der Placebogruppe auftraten. 31
Eine Real-Life-Untersuchung an 19 Patienten über 14 Monate bestätigt die Effektivität und gute Verträglichkeit von Efgartigimod (EFG). Es besserte den Verlauf dramatisch. Im Jahr vor der Behandlung waren acht von 19 Patienten ins Krankenhaus eingeliefert worden und 15 von 19 hatten eine Behandlung mit Plasmaaustausch oder Immunglobulinen benötigt; drei von 19 waren intensivmedizinisch behandelt worden. Während der EFG dagegen wurde keiner der Patienten klinisch behandelt, und nur einer benötigte einen Plasmaaustausch und intravenöse Immunglobuline. 32
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Verweise
Referenzen
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